Brief an meinen Parasympathikus

Lieber Parasympathikus,

leider kennen wir beide uns gar nicht so gut. Weil ich jahrelang … ach, was schreibe ich da … jahrzehntelang deinem Gegenspieler, den Sympathikus, den Vorzug gab.

Das geschah nicht in böser Absicht. Das geschah eigentlich in überhaupt keiner Absicht. Ich kannte den Sympathikus viel besser als dich. Der ist ja auch echt sympathisch, der Junge. Er wirkt so aktiv, zielstrebig, dynamisch und kraftvoll.

Und über den Sympathikus reden ja auch alle. Über dich spricht kaum einer. Dabei wollen alle das, was du zu bieten hast: Regeneration. Zufriedenheit. Wohlbefinden. Kreativität. Sogar für das innere Gleichgewicht bist zu zuständig. Und gratis oben drauf gibt es noch guten Selbstkontakt. Wer dich kennt, kennt sich selbst. 

Aber in aller Munde ist hauptsächlich der Sympathikus. Und die Stressreaktion. Es ist ja auch nicht verkehrt, sich mit den beiden auszukennen. Aber dass du mitsamt deiner Entspannungsreaktion so wenig Platz in dieser Debatte einnimmst, das ist echt komisch und auch ziemlich unlogisch.

Vielleicht hängt das damit zusammen, dass viele Menschen Stress nicht wahrnehmen. Ja, das ist so. Ich weiss dies aus eigener Erfahrung. Ich beobachte dies immer wieder bei Menschen in meinem Umfeld. Und nicht zuletzt bestätigen Forschungsstudien (insbesondere jene zur Herzfrequenzvariabilität), dass ein hoher Prozentsatz von Menschen, die sich selbst als nicht gestresst bezeichnen, physiologisch sehr wohl unter Stress stehen. Und wenn selbst man gar nicht mitbekommt, dass man den Sympathikus überstrapaziert – was soll man sich da auch für seinen Gegenspieler interessieren …

Aber du bist da! Du bringst wahren Segen. Ich möchte dich noch besser kennen lernen. Dich regelmässig so richtig zum Schnurren bringen. Wie eine Katze.

Apropos Katze … mir scheint, manchmal bist du ähnlich eigenwillig wie eine Katze. Man muss dich einfach lassen, dir nur das richtige Umfeld bieten. Dann kommst du auf leisen Tatzen um die Ecke geschlichen.

Aber dich zwingen zu wollen, indem man dich an einem Wellness-Wochenende, proppenvoll mit Massagen und Stutenmilch-Bädern, auf die To-Do-Liste quetscht, das klappt nicht. Das ruft dann eher wieder den Sympathikus auf den Plan.

Um dich besser kennenzulernen, muss ich keine langweiligen Meditationen machen. Das ist echt eine gute Nachricht, denn meditieren ist nicht so meins.

Du magst Ruhe. Du liebst es, dich schlapp zu lachen. Du erfreust dich an Bewegung aller Art. Und wenn ich mich körperlich verausgabt habe, schleichst du dich abends seelig lächelnd zu mir aufs Sofa. Du stehst auf unverplante Zeit, Lustwandeln, Verweilen. Eine gemeinsame Mahlzeit mit Freunden. Und natürlich auch auf Sex. Du zeigst dich gerne, wenn ich so richtig ins Tun versunken bin – beim Reinigen, Reparieren, Malen, Schreiben.

Vor allem magst du durchatmen. Tief durchatmen.

Sobald Zeit- und Leistungsdruck ins Spiel kommt, reagierst du wie eine Mimose und machst dich vom Acker. Und Vergleiche mit anderen Menschen findest du geradezu unsexy, das ist ein Spielverderber und Abtörner schlechthin.

Woran ich erkenne, ob du da bist?

Wenn du schnurrst, ist alles gut. Es ist ein Zustand, in dem es nichts zu tun und nichts zu wollen gibt. Und diesen Zustand, den kann man nicht denken, sondern nur spüren. Ein Sein von Fliessen, Leichtigkeit, Sättigung und Wohlsein. Eine offene, weite Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit. Vor allem – und daran bist du übrigens gut zu erkennen – gibt es nicht mehr diesen Wunsch nach Anerkennung und den Drang, die Dinge zu kontrollieren und perfekt machen zu wollen.

Ich freue mich auf unsere weitere, tiefe & ausgiebige Bekanntschaft.

Herzlich grüsst dich

Frau Momo

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