Die innere Architektur des Ungebrochen-Seins

Der lange Weg zur Freiheit 
Nelson Mandela 


Lesezeit: 17 Minuten (Also koch dir nen Tee, nimm einen Keks und los geht’s.)

Wann immer ich nach Vorbildern oder Inspiration suche; nach Menschen, von denen ich etwas lernen kann, kommt mir Nelson Mandela in den Sinn.

Zum einen ist da seine fast unglaubliche Lebensgeschichte. 

In seiner Kindheit ist Nelson Mandela ein barfüssiger Junge in der Transkei, der am Königshof seines Stammes aufwächst und mit grossen Augen neugierig den Stammestreffen lauscht. 

Später lebt er als armer Student in Johannesburg. Lernt bei Kerzenlicht, läuft oft zu Fuss, weil das Geld für den Bus fehlt, trägt einen geschenkten Anzug fünf Jahre lang, bis er endgültig auseinander fällt. 

In den 1950er Jahren ist Nelson Mandela als Anwalt in einem System tätig, das ihm vorschreibt, wo er wohnen und welchen Eingang er benutzen darf.

Er verbringt sage und schreibe 27 Jahre im Gefängnis – zunächst fast vollkommen isoliert von Familie und Freunden, mit zerschlissener Kleidung, einer dünnen Matte und löchrigen Decke.

Und genau dieser Nelson Mandela ist später der erste demokratisch gewählte Präsident Südafrikas. 

Seine Biographie wirkt wie eine afrikanische und politische Version der „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Legende. Sie erinnert ebenfalls an den Grafen von Monte Christo: verurteilt, auf einer Insel isoliert, und schliesslich zur wahren Grösse gereift.

Doch der Vergleich mit dem Grafen von Monte Christo hinkt. Es gibt einen wichtigen Unterschied. Genau dieser Unterschied ist der zweite Punkt, der mich fasziniert: Mandela sucht, als er freikommt und später an die Macht gelangt, keine Rache für das erlittene Unrecht. Im Gegenteil: Er wählt den Weg der Versöhnung.

Was befähigt ihn, diesen Weg zu gehen? Welche Werte tragen ihn? Welche innere Haltung ermöglicht ihm, Güte zu bewahren? Mit diesen Fragen in Kopf & Herz starte ich ins Buch. 

Im Laufe meiner Auseinandersetzung mit der Autobiographie merke ich, dass meine Fragen nur im Zusammenhang mit Mandelas Lebenssituationen zu beantworten sind. Sie erscheinen mir nicht nur als historische Ereignisse, sondern als Landkarte seiner inneren Entwicklung. So zeichne ich sein Leben chronologisch nach. 

Demokratisches Mindset – in der Kindheit gelegt

Nelson Mandela kommt 1918 in der Transkei zur Welt – als Teil des Xhosa-Volkes und mit dem Privileg, am Königshof seines Thembu-Stammes aufzuwachsen. 

Früh beobachtet er, wie der Regent führt und Stammesversammlungen ablaufen. Genau dort entwickelt sich Mandelas Verständnis für Demokratie und Führung – ein Fundament, das ihn sein ganzes Leben lang trägt und zugleich eine Vision, die ihn beflügelt. Ich finde es deshalb lohnenswert, an dieser Stelle genauer hinzuschauen. 

Steht bei den Xhosa etwas Wichtiges an – Dürre, Krankheit, Streit – berufen sie eine Stammesversammlung ein. Jedem Angehörigen des Stammes steht es frei, an diesen Versammlungen teilzunehmen und zu sprechen.

Der Regent hört zunächst allen Sprechenden zu: Jeder darf seine Nöte oder Meinung kundtun. Auch wenn der Regent kritisiert wird, hört er zu – ohne sich zu verteidigen oder zu rechtfertigen. (Alleine nur dieser Punkt erscheint mir in der heutigen Politik fast unmöglich). 

Der Regent selbst spricht erst am Ende der Versammlung und fasst den Konsens, den er aus den unterschiedlichen Beiträgen heraus gehört hat, zusammen. Gibt es keinen Konsens, sucht er ihn. Die daraus resultierenden Entscheidungen treffen alle Teilnehmenden zusammen und ihre Zusammenkünfte dauern so lange, bis ein Konsens erreicht ist. Denn bei den Xhosa kann ein Treffen nur in Einstimmigkeit enden. Ist diese nicht erreicht, wird das Thema vertagt. 

Diese Kultur der Zugänglichkeit, der Gleichwertigkeit und des ernsthaften Ringens um einen Konsens zeigt sich besonders im Umgang mit Minderheiten. Für die Xhosa ist es selbstverständlich, dass eine Minderheit nicht einfach von der Mehrheit überrollt wird. „Eine Herrschaft einer Mehrheit war eine fremdartige Vorstellung.“ schreibt Mandela. 

Hier wird mir klar, warum Mandela später so beharrlich darauf besteht, dass nach dem Ende der Apartheid nicht einfach die schwarze Mehrheit der Bevölkerung über die weisse Minderheit herrschen solle – trotz jahrzehntelanger Unterdrückung. Seine politische Ausrichtung empfinde ich als Ausfluss eines tief verwurzelten kulturellen Erbes: Führung als Zuhören, als Ausgleich, als Verantwortung gegenüber allen.

Der Weg in die Stadt – und in ein neues Denken

Nelson Mandela soll – so sieht es der Regent vor – eine arrangierte Ehe eingehen. Doch Mandela hat andere Pläne. Er flieht ins polyglotte, pulsierende Johannesburg und schlägt sich dort durch. In Alexandra, einem überwiegend schwarzen Viertel, lernt er ein anderes Südafrika kennen; ein urbanes Südafrika, in dem viele Menschen um ihr Überleben kämpfen. 

Er beginnt ein Jurastudium und studiert an verschiedenen Hochschulen, darunter die University of the Witwatersrand. Dort ist er einer der wenigen schwarzen Studenten und er erlebt so hautnah, was es heisst, diskriminiert zu werden. In dieser Zeit trifft er aber auch Weisse, die nicht im Raster der Apartheid denken, und er begegnet Kommunisten, von denen einige zu seinen engsten Freunden werden. 

Dieser Mix aus verschiedensten Menschen, neuen Weltsichten und urbanem Geschehen öffnet ihm das Denken weit über die Grenzen des Königshofes hinaus.

Parallel zu seinem Studium arbeitet Mandela als Anwaltsgehilfe. In den Kanzleien und Gerichtssälen ist er tagtäglich mit dem zerstörerischen Mechanismen des Systems der Rassentrennung konfrontiert. 

Und während er lernt, arbeitet, beobachtet, diskutiert und zuhört, wächst langsam, wie einer inneren Notwendigkeit entspringend, ein Freiheitskämpfer in ihm heran. 

Mandela, der stabile Real One 


Ich kann nicht genau angeben, wann ich politisiert wurde, wann ich wusste, dass ich mein Leben völlig dem Freiheitskampf verschreiben würde. […] Ich hatte keine Erleuchtung, keine einzigartige Offenbarung, keinen Augenblick der Wahrheit. Es war eine ständige Anhäufung von tausend verschiedenen Dingen, tausend Kränkungen, tausend unerinnerten Momenten, die die Wut in mir erzeugten, eine rebellische Haltung, das Verlangen, das System zu bekämpfen, das mein Volk einkerkerte. Da war kein bestimmter Tag, an dem ich mir sagte, von nun an will ich mich der Befreiung meines Volkes widmen, sondern stattdessen tat ich es einfach, weil ich nicht anders konnte.

Dieses Zitat beschreibt einen Charakterzug von Mandela, der sich meines Erachtens durch das gesamte Buch zieht: Mandela macht das, was er für richtig hält. Und das, was er für richtig hält, entspringt aus ihm, wächst sich aus ihm heraus, bezieht sich auf seine unmittelbare Erfahrung. 

Er ist weniger Ideologe als Pragmatiker. Das erscheint mir, neben seinem tief verankerten Verständnis von Demokratie, als wesentlich. Mandela lässt sich in seinem Vorgehen stets stark von praktischen Überlegungen leiten. Ich treffe in der Autobiographie also keinen dogmatischen Revolutionär, sondern einen fest entschlossenen Pragmatiker: Klarheit im Ziel, Beweglichkeit im Weg. 

Diese Wesensart bringt Mandela nicht nur Lorbeeren ein. Sein späterer Wechsel vom gewaltfreien Protest zum bewaffneten Kampf – eine Entscheidung, die er aus seiner Einschätzung der politischen Realität heraus trifft – ist national wie international heftig umstritten. Und auch im eigenen Lager bekommt er häufig Gegenwind: Radikalere Kräfte werfen ihm immer wieder zu grosse Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft vor.

Prinzipen über das Individuelle stellen 

Nelson Mandela tritt als 26-Jähriger dem African National Congress (ANC) bei, einer Bewegung, die für die gleichen Rechte aller Menschen eintritt. 

Kurz darauf, 1948, kommt bei der Wahl für das nationale Parlament die National Party an die Macht. Da die Bevölkerungsmehrheit der nicht-weissen Menschen kein Wahlrecht für das nationale Parlament hat, ist es quasi eine rein „weisse“ Wahl. 

Die National Party führt nun „offiziell“ und äusserst systematisch die Apartheid ein und verschärft damit die bereits bestehenden Ungleichheiten drastisch: von strikter Rassentrennung in Schulen, Wohngebieten, Bussen oder Krankenhäusern, über den Verlust von vielen Rechten hinsichtlich der politischen Mitbestimmung oder der Bewegungsfreiheit bis hin zu Zwangsumsiedelungen. Sie drängt Millionen von Menschen in sogenannte „Townships“ oder „Homelands“.

Der ANC – und mit ihm Mandela – reagiert mit einem grossen, gewaltfreien Protest, der Defiance Campaign. Mandela, mittlerweile als Anwalt selbstständig, wird mit seinem Engagement zu einem der sichtbarsten Anführer des Widerstands. 

Mandelas Engagement für den ANC und für die Defiance Campaign ist enorm und nicht gänzlich frei von einer Art innerer Zerrissenheit, ob er den richtigen Weg geht. Denn zwischenzeitlich verheiratet und Vater, findet er kaum Zeit für die Familie. 

Ich habe immer geglaubt, dass man als Freiheitskämpfer viele seiner persönlichen Empfindungen unterdrücken muss, die einem eher das Gefühl geben, ein einzelnes Individuum zu ein, als Teil einer Massenbewegung. Man kämpft für die Befreiung von Millionen Menschen und nicht für den Ruhm eines einzelnen. Damit meine ich nicht, dass ein Mensch ein Roboter sein und sich aller persönlichen Gefühle oder Motivationen entledigen soll, aber genau so wie ein Freiheitskämpfer seine eigene Familie der Familie des Volkes unterordnet, hat er seine individuellen Gefühle zugunsten der Bewegung zurück zu stellen.

Mandela glaubt an eine kollektive Mission und daran, dass sich das Individuum zugunsten dieses übergeordneten Ziels zurück nehmen muss. Und nicht nur das: Er sagt auch, dass man seine Wahrnehmung auf das Grössere richten soll, auf das, was alle verbindet, und nicht auf das Gefühl, ein getrenntes Individuum zu sein. 

Gebannt, illegal, gewaltbereit, angeklagt, verurteilt 

Um Mandelas politische Wirkung einzuschränken, verhängt der Staat immer wieder sogenannte banning orders gegen ihn, teilweise jahrelang. Diese sind ein Instrument der Apartheidregierung, um politische Aktivisten zu isolieren und mundtot zu machen, indem man deren Bewegungsfreiheit einschränkt und öffentliche Äusserungen verbietet. 

Schliesslich wird 1960 der ANC gänzlich verboten – damit wird aus Mandela, dem Anwalt, per staatlicher Definition eine „illegale Person“. 

Das macht natürlich etwas mit ihm. Es widerspricht quasi allem, woran er glaubt, wofür er arbeitet und wofür er kämpft. An diesem Punkt verändert sich für mich auch die Tonlage des Buches. Mandela geht in den Untergrund und gibt die Idee des gewaltfreien Widerstands auf. Die folgenden Kapitel handeln von Sabotage, militärischer Ausbildung, Waffen, Guerillakrieg, Bürgerkrieg. 

Für mich sind diese Abschnitte schwierig. Mandelas Argumentation kann ich zwar durchaus nachvollziehen: Die systematische Gewalt des Staates lässt ihm kaum noch gewaltfreie Möglichkeiten, um für sich und seine Ideale einzustehen. Zugleich sind mir die militärischen Überlegungen fremd und mit bestimmten, mir wichtigen Prinzipen nicht vereinbar.

Mandela wird gefasst und 1964 schliesslich im Rivonia Trial zu lebenslanger Haft verurteilt. Er ist 45 Jahre alt. 

Haft auf Robben Island


Niemals zweifelte ich ernsthaft daran, dass ich nicht doch eines Tages aus dem Gefängnis kommen würde. Ich glaubte nie daran, dass eine lebenslängliche Gefängnisstrafe tatsächlich lebenslänglich bedeuten und ich hinter Gittern sterben würde. Vielleicht verdrängte ich diesen Gedanken, weil es eine unangenehme Vorstellung war. Aber ich wusste immer, dass ich eines Tages wieder Gras unter meinen Füssen fühlen und als freier Mann im Sonnenuntergang spazieren gehen würde.

Vor allem die ersten Jahre auf Robben Island sind extrem hart. Mandela darf pro Halbjahr nur einen einzigen Brief erhalten und selbst der bleibt ihm einige Male verwehrt. Zwangsarbeit in einem Steinbruch und schlechte Verpflegung. Selbstverständlichkeiten muss er hart und geduldig erkämpfen, – selbst der Wunsch nach einer neuen Zahnbürste ruft einen monatelangen Verwaltungsakt hervor. 

Körperliches Bewegungstraining hilft ihm:

Ich war immer überzeugt, dass Bewegung nicht nur der Schlüssel zu körperlicher Gesundheit ist, sondern auch zum Frieden der Seele. […] Im Gefängnis war es unbedingt notwendig, dass man ein Ventil für Frustrationen hatte. Sogar auf der Insel versuchte ich, mein altes Training weiter zu führen. Dauerlauf und Muskelübungen von Montag bis Donnerstag, dann drei Tage Pause. Von montags bis donnerstags lief ich in meiner Zelle morgens 45 Minuten lang auf der Stelle.

Neben seiner Fähigkeit, seine emotionale und körperliche Resilienz gezielt zu stärken, ist ihm bewusst, dass er sich auch mental im Griff haben muss: 

Ich habe festgestellt, dass man das Unerträgliche ertragen kann, wenn man die Stärke seines Geistes bewahren kann.

Vor allem fällt mir seine Fähigkeit auf, stets auch widrige Einschränkungen in einen neuen Kontext zu setzten. Beispielsweise wird ihm zeitweise sein Studium, das er aufnehmen darf, wieder untersagt. Auch die mit dem Studium verbundene Literatur darf er nicht lesen. Er setzt sich weiterhin für die Fortsetzung seines Studiums ein und nimmt währenddessen mit den Büchern vorlieb, die erlaubt sind:

Aber die Aussetzung des Studienprivilegs hatte auch einen unbeabsichtigten Nutzeffekt. Ich las jetzt Bücher, mit denen ich mich sonst nicht beschäftigt hätte. Statt über dicken über Bänden über Vertragsrecht zu brüten, lies ich mich jetzt von Romanen fesseln.

Mandela weiss sich also einzurichten. Er findet kleine Gesten und Tätigkeiten, die ihm Momente der Zufriedenheit verschaffen: Durch das Gärtnern, das ihm nach etlichen Jahren gestattet wird, oder durch sein geheimes Engagement als Anwalt im Gefängnis, indem er andere Gefangene juristisch berät.  

Mir scheint es, als ob die äussere Enge des Gefängnisses Mandela paradoxerweise dazu treibt, seine mitgebrachten Neigungen zu kultivieren. Vor allem diejenige, pragmatisch an Dinge heran zu gehen. 

Die Dinge ändern sich – und Mandela ist bereit

Mandela verbringt insgesamt 18 Jahre auf Robben Island. 

In dieser Zeit verwandelt sich das Gefängnis quasi in eine Akademie für Widerstandskämpfer. Geschickt wissen Mandela und seine Mitgefangenen geheime Kommunikationswege zu etablieren und bauen fast systematisch ein inoffizielles ANC-Bildungssystem auf, das sie zur politischen Agitation der Gefangenen nutzen. 

Mandelas Einfluss wächst auch weit über die Gefängnismauern hinaus. In den 1980er Jahren nimmt der internationale Druck auf das Apartheid-Regime massiv zu, und Mandela wird zum Symbol des Widerstands, ja fast zum Mythos. 

Die Weltöffentlichkeit schaut auf ihn; und er wiederum organisiert sich im Gefängnis bemerkenswert effizient. Das bezieht auch sein Reflexions-Vermögen mit ein. Bewusst arbeitet Mandela dagegen an, ein Fossil zu werden. Der Kontakt zu jüngeren Mitgefangenen zwingt ihn immer wieder zur Überprüfung seiner Überzeugungen:  

Ich hatte immer versucht, offen für neue Vorstellungen zu bleiben, und keinen Standpunkt nur deshalb abzulehnen, weil er neu oder anders war.

Schliesslich wird Mandela in ein anderes Gefängnis verlegt, er ist nun 64 Jahre alt. Damit will die Regierung seinen politischen Einfluss in „seiner“ ANC-Kaderschmiede auf Robben Island schwächen, zugleich ist es ein Signal an die Welt, dass man ihn gut behandle, – denn die Haftbedingungen im neuen Gefängnis sind tatsächlich besser. 

Im neuen Gefängnis beginnt Mandela erste, geheime Gespräche mit Regierungsvertretern zu führen, die er nicht wirklich mit dem ANC abstimmt. Es wirkt auf mich ein wenig wie ein etwas eigenwilliger Alleingang und ich bin unsicher, ob er der erneuten Isolation, dem Älterwerden oder seinem Realitätssinn entspringt. Jedenfalls wächst es sich wieder aus ihm heraus – diesmal die Erkenntnis, „dass man mit dem Feind reden muss“. 

Die Gespräche vertiefen sich mit der Zeit. Und unter Staatspräsident Botha zeigt das Regime erste vorsichtige Reformansätze – freilich weniger aus moralischer Läuterung sondern mehr aus politischem Druck heraus. 

Der Höhepunkt dieser Phase ist ein persönliches Treffen zwischen Botha und Mandela, auf das sich Mandela minutiös vorbereitet:

Ich sah mein Memo und meine ausführlichen Notizen noch einmal durch, überflog Zeitungen und Veröffentlichungen, um sicherzugehen, dass ich auf dem Laufenden war. […] Ich probte die Argumente, die der Staatspräsident möglicherweise vortragen würde, sowie meine Antworten darauf. Bei jeder Begegnung mit einem Gegner muss man dafür sorgen, dass man genau den Eindruck vermittelt, den man vermitteln will.

Dieses Gespräch findet am 5. Juli 1989 statt –  es ist ihr erstes und einziges direktes Treffen. Wenige Wochen später tritt Botha aus Gesundheitsgründen zurück, und de Klerk übernimmt das Amt.

Der Weg in die Freiheit 


Ich wusste, die Menschen erwarteten von mir, dass ich Zorn auf die Weissen hegte, doch das war nicht der Fall. Im Gefängnis nahm mein Zorn auf die Weissen ab, aber mein Hass auf das System wuchs. Südafrika sollte sehen, dass ich sogar meine Feinde liebte, das System jedoch hasste, das uns gegeneinander aufbrachte.

Das Apartheid-System befindet sich Ende der 1980er Jahre in jeder Hinsicht in einer mehr als tiefen Krise. Reformen sind für die Regierung der einzige Weg, die eigene Haut zu retten. Der neue Staatspräsident de Klerk erkennt mehr noch als Botha, dass tiefgreifende Veränderungen unumgänglich sind und schreitet, kurz nach dem er im Amt ist, zur Tat. Er lässt den ANC wieder zu und Mandela frei. 

Am 11. Februar 1990 wird der 71-jährige Nelson Mandela nach 27 Jahren, 6 Monaten und 6 Tagen ununterbrochener Haft freigelassen. Seine Entlassung löst national wie international frenetische Begeisterung aus. Und Mandela kann sich nun erstmals seit Jahrzehnten als freier Mann wieder legal für sein Ziel eines demokratischen Südafrika einsetzen.

Um einen gewaltsamen Zusammenbruch Südafrikas – und damit auch das Ende seiner Partei – zu verhindern, setzt de Klerk auf einen kontrollierten politischen Übergang in eine neue Staatsform. In Nelson Mandela findet de Klerk den entscheidenden Verhandlungspartner, um diesen Übergang zu gestalten: National wie international respektiert, frei von Rachebedürfnissen, unbeirrbar und doch flexibel. 

Und für Mandela geht die Tür auf, auf die er so lange gewartet hat. 

Mandela, der Mann der Stunde 


Wir wollten das Land nicht zerstören, bevor wir es befreiten, und die Weissen zu vertreiben würde die Nation vernichten. Ich sagte, es gäbe einen Mittelweg zwischen weissen Ängsten und schwarzen Hoffnungen und den würden wir vom ANC finden. Weisse sind südafrikanische Landsleute, sagte ich, und wir möchten, dass sie sich sicher fühlen und wissen, dass wir den Beitrag schätzen, den sie zur Entwicklung dieses Landes geleistet haben. 

Mandela erweist nun in einer politisch instabilen und von Gewalt geprägten Zeit sein Verhandlungs- und Vermittlungsgeschick. Er führt Gespräche mit der Regierung, mit der ANC-Führung und mit weiteren politischen und gesellschaftlichen Gruppen – eine Aufgabe, die, salopp gesagt, dem Versuch gleicht, einen Sack Flöhe zu hüten. Ziel ist es, einen Konsens für eine Übergangsverfassung zu finden, die den Weg zu den ersten freien Wahlen ebnen soll. Und Konsens – das ist Mandelas Ding. 

Es erscheint mir, als hätte das sterbende Apartheidsystem Mandela eine Steilvorlage geboten, damit er zur wahren Grösse auflaufen kann – auch wenn es sich angesichts des langen Leids von Mandela zynisch anhören mag. 

Seine tief verwurzelten Vorstellungen von Demokratie, sein Pragmatismus, seine juristischen Kenntnisse, seine Fähigkeit, das grosse Ziel individuellen Interessen überzuordnen, seine Fähigkeit, sich gut vorbereiten zu können, seine körperliche wie mentale Fitness – all das geht nun auf. 

Die Wahl findet im April 1994 statt, vier Jahre nach Mandelas Entlassung. An diesem Tag können erstmals alle erwachsenen Südafrikaner, unabhängig von Hautfarbe, gleichberechtigt wählen. Nelson Mandela wird anschliessend Südafrikas erster demokratisch gewählter Präsident.

Stoische tägliche Treue & Kleinschrittigkeit 

Ich komme zurück auf meine anfänglich gestellten Fragen. Was befähigt ihn, diesen Weg zu gehen? Welche Werte tragen ihn? Welche innere Haltung ermöglicht ihm, Güte zu bewahren?

Etwas überspitzt formuliert halte ich fest: Von der Vision eines demokratischen Südafrika beseelt, mit Realitätssinn gesegnet und sich in den Dienst eines höheren Ziel stellend. Seine Bereitschaft zur Reflexion; seine Bereitschaft, in jeder Situation nach dem Nutzen zu schauen. Diszipliniert sein. Vorbereitet sein. Aber auch sein Hang zu einem gewissen Eigenwillen und zum Alleingang, der aus inneren Notwendigkeiten entspringt. 

Ein Bild hat sich mir besonders eingeprägt: Ich sehe Nelson Mandela in seiner Gefängniszelle auf Robben Island auf der Stelle laufen. Enger, eingeschlossener, widriger können die Umstände fast nicht sein – und Mandela nutzt seine Bewegungsfreiheit. Mit einer stoischen, täglichen Treue zu sich und mit seiner Bereitschaft zur beharrlichen Kleinschrittigkeit geht er seinen Weg. 

Und was ist mit der Güte? Da lasse ich Nelson Mandela das letzte Wort: 

Ich wusste immer, dass tief unten in jedem menschlichen Herz Gnade und Grossmut zu finden sind. Niemand wird geboren, um einen anderen Menschen wegen seiner Hautfarbe, seiner Lebensgeschichte oder seiner Religion zu hassen. Menschen müssen zu hassen lernen. Und wenn sie zu hassen lernen können, dann kann ihnen auch gelehrt werden zu lieben. Denn Liebe empfindet das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil. Selbst in den schlimmsten Zeiten im Gefängnis, als meine Kameraden und ich an unsere Grenzen getrieben wurden, sah ich einen Schimmer von Humanität bei einem der Wärter, vielleicht nur für eine Sekunde, doch das war genug, um mich wieder sicher zu machen und mich weiter leben zu lassen. Die Güte des Menschen ist eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht werden kann. 

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