Leben ohne Eigenwillen

„Das Experiment Hingabe“
Michael A. Singer


Wenn sich Autoren den Aufkleber „New York Times Bestseller“ auf die Brust pappen können, bin ich skeptisch. Mainstream trifft selten meinen Geschmack. Doch Michael A. Singers autobiographisches Buch „Das Experiment Hingabe“ bildet da eine Ausnahme.

Michael „Mickey“ Singer übt sich in Hingabe. In Hingabe an das Leben. Hingabe – das bedeutet für ihn, persönliche Vorlieben und Abneigungen kontinuierlich loszulassen. Er übt sich sozusagen darin, eine Koryphäe im Überwinden chronischer Festhalteritis zu sein. Und ohne zu zögern durch die Türen zu gehen, die das Leben für ihn öffnet.

Bunte Anfänge

Als Student erkennt Mickey Singer, dass es eine Stimme in seinem Kopf gibt, die ständig redet. Er spürt, welche Unruhe diese urteilende und kommentierende Stimme in ihm entfacht und beschliesst, ihr nicht mehr zu glauben. Er übt sich in Meditation und Yoga, um mit dieser inneren Wortmaschine umgehen zu lernen.

Später wird er in seinem Bestseller „Die Seele will frei sein“ schreiben:

Es gibt nichts Wichtigeres auf dem Weg zu wahren Wachstum als die Erkenntnis, dass Sie nicht identisch sind mit der Stimme Ihres Denkens.

Fortan öffnet sich Singer dem, was das Leben ihm aufträgt. Unabhängig davon, ob er diesen Auftrag nun mag oder nicht. Bei seinen Entscheidungen ignoriert er die Stimme seines Denken geflissentlich und tut das, was das Leben von ihm will.

So lebt er als Einsiedler in einem Camper in Mexiko, später lehrt er Wirtschaftswissenschaften an einem Community College in Florida. Er fängt an, Häuser zu bauen und gründet sein Bauunternehmen Built with love. Fast nebenbei ruft er den Tempel of the Universe ins Leben, eine spirituelle Gemeinschaft.

Von der Liebe auf den ersten Blick zum Big Business

Im Jahr 1978 verliebt sich Mickey Singer in einen Computer:

Ich war von diesem Gerät beim Elektronik-Händler total fasziniert. Es öffnete etwas in meinem Inneren, das ich nur als Liebe auf den ersten Blick beschreiben kann. […] Vom ersten Moment an, in dem ich den Apparat berührt hatte, verspürte ich einen Ruf aus meinem tiefsten Inneren. Es blieb mir keine andere Wahl, als mich diesem Ruf zu ergeben. Als ich einige Tage später in den Laden zurückkehrte, um 600 Dollar für den damals besten Computer auf den Tisch zu legen, hatte ich nicht die geringste Vorstellung davon, was ich, zu mir zurückgekehrt, damit anfangen soll. Ich wusste nur, dass ich dafür bestimmt war, ihn zu besitzen. 

Das Leben dagegen weiss genau, was Mickey Singer mit dem Apparat anfangen soll. Es lässt ihn die Software Medical Manager programmieren. Und die Software ist erfolgreich, mehr als erfolgreich. Singer steigt in den nächsten Jahren zum Vizepräsidenten eines börsennotierten Milliardenunternehmen auf.

Big Deals und Business Trips durchziehen nun sein Leben – doch das alles bleibt Singer einerlei. Jeden Morgen und jeden Abend verweilt er an den Ankerplätzen seines Lebens: In der Meditation und beim Yoga. 

Während des Lesens entsteht in mir das Bild eines etwas arglosen, grundgütigen und intelligenten Hippies. Ich sehe ihn mit seiner langen Haarmähne und den schlackernden Bluejeans, wie er ein wenig unbedarft und zugleich friedlich in den kühlen Konferenzräumen der Businesswelt agiert. Und sein Bestes gibt.

Wirbelsturm in Singers Leben

Doch auch ein zutiefst spirituelles Leben ist vor Breitseiten nicht gefeit. Ein böswilliger Mitarbeiter Singers platziert ein komplexes Lügengespinst an der richtigen Stelle. Das FBI taucht auf, eine Razzia findet statt. Später wird Singer durch die Vereinigten Staaten von Amerika angeklagt. Das dazugehörige Kapitel im Buch heisst Totale Hingabe.

Mickey Singer und ein grosser Apparat von Anwälten bereiten sich jahrelang mit schmerzlich zu lesender Akribie auf den Prozess vor. Schliesslich wird die Anklage zurück gezogen, weil die Unbescholtenheit Singers bescheinigt werden kann. Heute lebt Mickey Singer zurückgezogen inmitten seiner spirituellen Gemeinschaft in den Wäldern Floridas.

Ein Leben jenseits von persönlichen Vorlieben

Das alles passierte, weil es das Leben so wollte – so sieht es Singer. Er verfolgt bei seinen Entscheidungen, die er trifft, nur ein einziges Ziel: Sich selbst loszuwerden. Darum geht es ihm bei seinem Experiment Hingabe: alle persönlichen Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat, loszulassen.

Vieles von dem, was sich bisher in seinem Leben geschah, hat Mickey Singer nicht gewollt. Genauer gesagt: die Stimme in seinem Kopf hat es nicht gewollt. Sie hat sich in entscheidenden Situationen widerwillig, ängstlich, schwach und unsicher gezeigt. Singer stellt sich der Situation durch beständiges Loslassen. Und kommt zu dem Ergebnis:

Solange ich es zu meinem einzigen Ziel machte, mich selbst loszuwerden, so lange war jede Situation eine fruchtbare Erfahrung.

Check your motives

Das Buch ist flüssig geschrieben und gut zu lesen. Es ist mit all seinen Cliffhangern an den Kapitelenden zutiefst amerikanisch und füttert dieses „Ich-muss-unbedingt-wissen-wie-es-weitergeht“-Ding.

Es hat mich dazu inspiriert, genau hinzuschauen, wie ich Entscheidungen treffe. Welche Motive stehen hinter ihnen? Halte ich mit meiner Entscheidung an Ängsten, Abneigungen und alten Geschichte fest? Oder möchte mein Ego unbedingt etwas tun oder erreichen, weil es sich davon verspricht zu glänzen? Welche Energie stärke ich mit meiner Entscheidung? Wie besonnen treffe ich Entscheidungen? Und was würde ich tun, wenn ich frei von meinen persönlichen Reaktionen von Mögen und Nichtmögen wäre?

So viele Fragen. Viele interessante Fragen, die helfen, das innere Licht anzuknipsen. Um Forscherin in eigener Sache zu sein und um reich mit Forschungsergebnissen belohnt zu werden.

Ich bin keine grosse Freundin von Ratschlägen. Doch den Ratschlag Check your motives, den halte ich für universal. Und nach dem Lesen des Buches „Experiment Hingabe“ erst recht.

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