Ein Rächer wandelt sich

Der Graf von Monte Christo
Alexandre Dumas


Jüngst schreibe ich mir ein paar Klassiker der Weltliteratur auf meine Bücherliste. Ja, Klassiker. Dickleibige, alte Schinken, die kaum etwas mit meinem aktuellen Leben zu tun haben scheinen. Nicht zeitgemäss, krittelt eine Stimme in mir, meine Zeit könnte ich doch auch anders verwenden.

Zugleich weiss ich, Klassiker bieten zeitlosen Stoff. Die grossen Gefühle, die Irrungen, Windungen und Wendungen von Menschen und Gesellschaften sterben nicht aus. Und ich habe Lust einzutauchen in alte Werke, die von anderen Zeiten, von anderen Leben erzählen. Von Ehe und Moral unter russischen Adeligen im 19. Jahrhundert (Leo Tolstoi). Oder über das Erwachsenwerden, über Liebe, Freundschaft und Reue in England zu Zeiten der industriellen Revolution (Charles Dickens).

Ich starte mit dem Grafen von Monte Christo – und damit mit dem gesellschaftlichen Nachbeben der französischen Revolution.

Archetypus Held in Reinkultur 

Schnell ist mir klar: Ich habe mir mit dem Grafen ein starkes und zugleich einfaches archetypisches Thema ausgesucht: das des Helden.

Verraten. Verlassen. Unschuldig. Isoliert auf einer Insel. Unter grausamsten Bedingungen in Haft. All das ist Edmond Dantès. Eine schier aussichtslose Situation und er ist nah dran, aus dem Leben auszuchecken. Doch Dank einer glücklichen Fügung gelingt ihm die Flucht, er kommt zu unermesslichen Reichtum. Und, vor allem: Edmond Dantès rächt sich als Graf von Monte Christo erfolgreich an denen, die ihm Unrecht taten. Daraus sind Heldenepen gestrickt.

Aus dem Zustand der Ohnmacht kommend, hat der Archetyp des Helden das Ziel, die machtvollste Version seiner selbst zu werden. Die Schattenseite des Helden ist seine Selbstgerechtigkeit, die zur Falle werden kann: Er glaubt sich im Recht, es fehlt ihm an Demut. Diese Wesensart des Helden wird in der Figur des Grafen von Monte Christo nur allzu deutlich.

Mit Helden kann man sich wunderbar identifizieren. Sie leben stellvertretend für die ohnmächtigen Anteile in einem das aus, was diese unterlassen. Auch für mich. Der Roman bringt mich mit einem Bereich meines Lebens wieder in Kontakt, in dem ich mich machtlos und ungerecht behandelt fühlte, mir Unrecht widerfahren ist. Ich wurde infolge bitter und verzagt, sassen meine „Gegner“ doch am viel längeren Hebel. Gott sei Dank kratzte ich die Kurve und lies meinen Groll los. Zugleich empfinde ich doch etwas diebische Genugtuung, den Grafen auf seinem siegreichen Rachefeldzug zu erleben. Er, der den Mächtigen einmal so richtig zeigt, wo Bartel den Most holt. Sie am Schlafittchen packt. So gut!

Doch der Graf von Monte Christo ist mehr als eine einfach gestrickte Heldengeschichte. Es ist ein komplexes, tiefes Werk – in jeglicher Hinsicht. Es ergründet universelle Themen wie Schuld und Sühne sowie Verrat und Rache. Zudem bildet der Roman ein zeitgenössisches, ausdifferenziertes Porträt der französischen Gesellschaft nach dem Sturz Napoleons.

Skeptisches Annähern

Ich will es wirklich wissen. Nehme mir das Werk in der ungekürzten Fassung vor. 44 Stunden Hörbuch liegen vor mir. Vierundvierzig! Holla die Waldfee! Über die Geschichte weiss ich nur den oben skizzierten Heldenepos:

Edmond Dantès, unerfahren und vom Glück gesegnet, zieht die Missgunst dreier Menschen auf sich. Er fällt einem Komplott zum Opfer und landet unschuldig, ohne Gerichtsverhandlung, im berüchtigten Gefängnis Château d’If. Dieses befindet sich auf einer Insel vor der Küste von Marseille. Im Kerker lernt er seinen Kerker-Nachbarn kennen, den Abbé Faria. Der Abbé schenkt ihm Vertrauen, Bildung und kennt einen grossen Schatz auf der Insel Monte Christo. Nach 14 Jahren kann Dantès fliehen, hebt den Schatz und wird reich. Er nennt sich fortan Graf von Monte Christo und rächt sich an denen, die ihm Unrecht taten.

Und diese überschaubare Geschichte soll 44 Stunden Hörbuch hergeben? Ich spüre mein Unbehagen und befürchte, dass diese 44 Stunden hauptsächlich aus langatmigen Dialogen der beiden darbenden Kerker-Genossen bestehen. Innerlich bereite ich mich auf ausführliche religiöse Belehrungen des Abbé Faria vor.

Entsprechend fragend schaute ich aus der Wäsche, als Edmond Dantès bereits nach acht Stunden Hörzeit vor den Schatztruhen steht. Noch über vier Fünftel des Hörbuchs liegen vor mir! Das wird ja ein ausführlicher Rachefeldzug, denke ich mir.

Und recht habe ich. Im Grunde genommen geht es nun erst richtig los. Denn darum geht’s: Rache.

Frau Momos Mini-Exkurs zu dem Thema Rache

Rache. Ein Thema, mit dem ich bis anhin nur wenig bewusste Berührungspunkte habe. Also mache ich mich erst einmal schlau.

Bei Rache geht es, so lese ich, um eine erbarmungslose Abrechnung, weniger um philosophische Gerechtigkeit. In der Regel ist es eine affektive Handlung, die ihren Ursprung in Gefühlen wie Ohnmacht, Kränkung, Verrat, Wut oder Stolz hat. Sie nährt sich aus Werten und Bedürfnissen wie Sicherheit, Vertrauen, Selbstbestimmung, Selbstbehauptung, Respekt, Autonomie oder Freiheit, die im Vorfeld verletzt worden sind.

Rache ein komplexes und wissenschaftlich schwer zu fassendes Phänomen. Es hat fliessende Grenzen zu Themen wie Moral, Religion, Philosophie, Macht, Rechtsstaatlichkeit und Selbstjustiz. Rache zählt bis heute zu den wichtigsten kriminellen Motiven.

Durch die ansteigende narzisstische Kränkbarkeit in unserer Gesellschaft ist der Trend zu erkennen, auf einen eher belanglosen Vorfall mit einer überdimensionalen Racheaktionen zu reagieren. Die Verhältnismässigkeit zwischen Auslöser und Racheantwort geht verloren. 

Narzisstische Kränkung versus Gelassenheit  

Daran bleibe ich hängen: Häufig hat Rache heutzutage weniger mit echter Ungerechtigkeit, dafür vielmehr mit verletzter Eitelkeit zu tun. Es ist die Reaktion auf eine narzisstische Kränkung und ein angekratztes Ego. Da hat einer in einer Diskussion das Nachsehen, die eigene Idee wurde abgelehnt … und schwupps … schon reagiert der Narzisst in einem mit einer Vendetta.

Für mich ist es das Ego mit seiner Sucht nach Anerkennung als Grundübel. Das Ego, das ständig urteilt, vergleicht, beschuldigt, kritisiert, bedauert und die Dinge immer wieder erneut durchkaut. Es geht um dieses Konstrukt „Ich“, das alle Scheinwerfer auf sich selbst gerichtet sehen und wahrgenommen werden möchte. Und wenn das Ego Angst hat, seine Droge zu verlieren, schlägt es Alarm. Stress ist die Folge und ein Racheakt.

Sich zurücknehmen und Nabelschau halten ist das Antidot – jedenfalls für mich. Die Sucht nach Anerkennung loslassen. Wenn man sich nicht mehr davon bedroht fühlt, die Anerkennung anderer zu verlieren oder nie zu erhalten, dann hat man keinen Stress. Weil man weiss, dass nur das Ego bedroht ist, nicht die Person.

Die Gretchenfrage: Wer darf rächen? 

Aber zurück zu dem tatsächlich erlittenen Unrechts Edmond Dantès’. Wieder in Freiheit erkundet er die Lebensumstände der damaligen Täter bis ins kleinste Detail. Er entdeckt weitere von ihnen begangene Schandtaten. Alles scheint ihm mehr und mehr schicksalhaft verwoben. Dantès sieht sich schliesslich kaum noch als Rächer in eigener Sache. Vielmehr betrachtet er sich als Werkzeug der Strafe Gottes. Er ist überzeugt, mit seiner Rache in Gottes Auftrag zu handeln.

An der Stelle nimmt es der gläubige Edmond Dantès allerdings nicht so genau. Er bezieht sich auf Gott, doch selbst im Buch der Bücher wird das Recht zur Rache einzig an Gott delegiert:

Die Rache ist mein; ich will vergelten.

5. Mose, 32

Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum den Zorn Gottes, denn es steht geschrieben: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr“

Römer 12, 19

Dantès kehrt die Machtverhältnisse um, streift die Opferrolle ab und wird selbst zum Täter. Wer Rache ausübt oder einfordert, wird zum Akteur, da gibt’s kein Vertun. Dafür braucht Dantès eine innere Rechtfertigung jener Handlungen, die man als gläubiger Mensch eigentlich misslingt, missbilligen muss. Es ist, als ob Dantès seine Handlungen vor sich selbst mit Gott rechtfertigen will.

Interessant ist für mich, dass ich emotional dennoch auf der Seite Dantès stehe, auch wenn ich ihn moralisch nicht billigen kann. Die Moralistin in mir sagt, er solle doch das erlittene Unrecht anders verarbeiten; all sein Reichtum nehmen und Gutes damit bewirken und sich ansonsten ein Leben in Saus und Braus gönnen. Doch zugleich es ist eine Genugtuung für mich, wie er all den Lügnern, Geldgierigen und Betrügern an den Kragen geht.

Und das ist, wie oben ausgeführt, sein Job als Held: Stellvertretend innere ohnmächtige Anteile ausleben. Well done, Dantès, well done.

Vom Opfer über den Rächenden zum Befriedeten

Doch auch der Autor Alexandre Dumas holt die Moralkeule heraus: Die Rache rächt sich. Der Graf wird mit den Ergebnissen seines Rachefeldzugs konfrontiert und fängt an, an seiner Mission zu zweifeln. Da ist der Tod eines unschuldigen Kindes. Da ist das Leiden seiner einstigen Verlobten. Und da ist die Liebe seines gefühlten Ziehsohns zu der Tochter einer der Täter. So lässt er den letzten Täter am Leben, rettet die Liebenden und darf sich sich schlussendlich selbst als geliebt erfahren.

Ich mag die Wandlung Edmond Dantès’. Aus dem naiven, harmlosen und glückstrunkenen Mann, der sich unversehens in einer aussichtslosen Situation wider findet, wird ein gebildeter, grimmiger, fast unnahbarer Rächer. Mit Geduld, Geschick und vollendeten Manieren lässt er ein wahres Inferno anschwellen. Durch die Ergebnisse seines Werkes und durch die Liebe anderer Menschen lässt er jedoch Läuterung zu.

Schöne Spannungskurve bis zum fulminanten Schluss

Was soll ich sagen, das Buch hat mich vollkommen in seinen Bann gezogen. Keine Sekunde langweilig, trotz manchmal epischen Beschreibungen von Nebensträngen, Garderoben und Lokalitäten. Gegen Ende eher ein Krimi, mit einem Plot, wie ich ihn mir von so manchen Krimiautoren wünsche: überraschend, in sich konsistent, nachvollziehbar.

Zunächst habe ich Mühe, mich in dem komplexen Beziehungsgeflecht zurecht zu finden, das Alexandre Dumas entfacht. Ich helfe mir mit einer Skizze, die allerdings mit der Zeit vor lauter Pfeilen, wer wen liebt, heiraten soll/will, betrügt oder umbringt, immer unübersichtlicher wird. 

Mühe hatte ich ebenfalls mit der Unerbittlichkeit, mit der der Graf agiert, intrigiert, manipuliert, Menschen nach seinem Gusto einsetzt, ihnen viel Geld zahlt und sie zugleich deswegen verachtet.

Doch innerlich knie ich nieder ob dieser Leistung Dumas’. Eine Geschichte von so hoher Qualität zu schreiben, so strukturiert und durchdacht, schwer an Bedeutung, reich an Emotionen, mit konsistenten Charakteren. Eine Geschichte, die mich trotz der Länge aufmerksam hält, – das ist starker Tobak. 

Dumas schrieb alles von Hand. Ohne Zwischenspeichern, Herumschieben von Absätzen, stundenlangen Herumdoktern an Sätzen, ohne zig verschiedene Versionen auf der Festplatte. 

Hut ab! 

P. S. Episches Buch, epischer Beitrag 🙂 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert