Einen Crush auf das Leben haben 

Wechselnde Pfade,
Schatten und Licht:
Alles ist Gnade,
fürchte dich nicht.


Das Leben gelingt, wenn wir es lieben. Das jedenfalls schreibt der Soziologe Hartmut Rosa. Das Leben zu lieben, das heisst für ihn, dass wir eine „geradezu libidinöse Bindung“ zu den Menschen, Räumen, Dingen und Werkzeugen haben, denen wir begegnen und mit denen wir zu tun haben. Es geht ihm um eine Liebesbeziehung mit dem Leben. 

Eine Liebesbeziehung mit dem Leben. Hui! Da fliegen ja ganz schön grosse Worte durch den Raum: Liebe. Beziehung. Leben. 

Das Leben in fünf Worten zusammengefasst

Ich fange mal mit dem Leben an. Und spanne so den Bogen zu dem Baltischen Haussegen, den ich seit einiger Zeit in mir bewege:  

Wechselnde Pfade,
Schatten und Licht:
Alles ist Gnade,
fürchte dich nicht.

Ich mag es, wenn Dinge sprachlich prägnant auf den Punkt gebracht werden. Die ersten beiden Zeilen dieses Segens packen die grossen Vibes des Lebens in ganze fünf einfache Worte. Wir gehen auf verschiedenen Wegen und erleben dabei helle und dunkle Tage. That’s it. Das Leben als eine Abfolge von Ereignissen; und jedes Ereignis hat seine ganz eigene emotionale Färbung. Das ist das Leben in aller Kürze gefasst, das Leben „in a nutshell“. 

Anders könnte man es auch so ausdrücken: 

Wechselnde Tage,
Freude und Leid.

Aus diesem wechselhaften Licht-und-Schatten-Dingens gibt es kein Entrinnen. Vieles, wenn nicht das meiste, suchen wir uns nicht aus. Wir sehnen uns nach den Highlights und den Flow-Zuständen, vielleicht auch einfach „nur“ nach Zufriedenheit; sind zugleich immer auch mit inneren und äusseren Unfrieden, Widerstand und Schmerz konfrontiert. Und wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, welche Glücks- oder Höllenpfade uns bevorstehen. Das ist die Herausforderung, mit der wir alle klarkommen müssen.

Dieses „Klarkommen-Müssen“ bringt dann die Frage der Beziehung ins Spiel: Wie stehe ich zu all dem, was ich erlebe? Vor allem: Welche Beziehung habe ich zu den Drama-Zeiten; zu den dunklen Tagen; zu den Phasen, in denen man gefühlt ein Abo auf Arschkarten hat? Lehne ich sie ab? Bin ich einverstanden? 

Nun ja, einverstanden zu sein mit dem, was geschieht, das scheint vielleicht gerade noch so machbar … aber es zu lieben?! Denn darauf läuft es ja hinaus, wenn man dem Hartmut Rosa Glauben schenkt: Eine Liebesbeziehung mit dem Leben zu führen, ganz gleich, was uns begegnet. 

An dieser Stelle bringt der Baltische Haussegen den Begriff der Gnade ins Spiel: Alles ist Gnade.

Salopper Mini-Exkurs über Gnade

In der christlichen Theologie stellt die Gnade ein zentrales Konzept dar. In diesem Kontext wird Gnade als eine unverdiente Zuwendung Gottes an die Menschen verstanden. Gnade lässt sich in diesem Zusammenhang auch als Geschenk, Gabe, Gefälligkeit, Vergebung, Barmherzigkeit, Wohlwollen oder Zuwendung interpretieren.

Christen glauben, dass Gott von Grund auf gnädig ist. Dass Gnade sozusagen eine tiefverankerte und nicht weg zu denkende Grundeigenschaft von Gott ist. Es würde sich vielleicht so in einem Kurzprofil auf Social Media lesen: Gott – Founder, zurzeit als Hirte tätig, allmächtig, allwissend, gnädig, liebend, Gerechtigkeits-Freak.

Im christlichen sowie im weltlichen Kontext kommt dem Begriff „unverdient“ beim Wort Gnade eine entscheidende Bedeutung zu. Wir kennen das aus Kontexten wie „jemandem Gnade gewähren“ oder „Gnade vor Recht ergehen lassen“: Dies bedeutet, Nachsicht oder Milde zu üben, selbst wenn jemand möglicherweise eine andere Behandlung „verdient“ hätte.

Im christlichen Kontext bedeutet Gnade also die unverdiente Liebe, Gabe oder Vergebung Gottes gegenüber den Menschen. Gnade ist damit – wie immer, wenn Gott im Spiel ist – ein asymmetrisches Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. (Das hatten wir hier schon einmal). 

Möchte dieser Baltische Haussegen tatsächlich vermitteln, dass alles im Leben – die Höhen und Tiefen, die Lichtblicke und die dunklen Zeiten – letztlich ein unverdientes Geschenk Gottes an mich respektive an alle Menschen ist? Ein Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit? 

Ich ahne, wir streifen das sogenannte Theodizee-Problem, aber dazu später mehr. Erst einmal halte ich ein bisschen Nabelschau. 

Die Gnade, die ich in meinem eigenen Leben erfahre

Wenn ich mir die Tiefpunkte meines eigenen Lebensweges ansehe und dabei mit einem offenen Herzen den Gedanken „Alles ist Gnade“ zugrunde lege, nehme ich eine Veränderung, einen inneren Shift wahr. Einen Wechsel zu einer Sichtweise, die mich mit einem Gefühl von grösserer Gelassenheit und Dankbarkeit durchströmen lässt. Und mein Leben fühlt sich auf einmal sehr klar an. 

Im Mittelpunkt dieses Shifts steht eine feine, aber kraftvolle Neuausrichtung der Perspektive: Fort von der zermürbenden Frage des „Warum?“, die sich nur zu gern im Jammern verheddert. Hin zu hin zu einem neugierigen „Wozu?“ 

Ich setze meine Forscher-Kappe auf: Wozu hat mich diese Erfahrung eingeladen? Welche inneren Ressourcen aktiviert? Wozu hat sie mich befähigt? Welche Erkenntnisse habe ich gewonnen, was habe ich gelernt? Wie hat sie mich für mein Dafürhalten zu einer stärkeren, klügeren oder einfach zu ’ner besseren Frau Momo gemacht? Wie hat dies mein Leben bereichert?

Die Frage des „Wozu?“ empfinde ich als kraftvoll, klärend und beruhigend. Sie regt mich zum Out-of-the-box-Denken an und damit zum Perspektivenwechsel. Lässt mich vertrauensvoll werden, lässt mich Verantwortung übernehmen. Es ist, als würde der Nebel sich langsam lichten – nicht, weil der Schmerz verschwindet, sondern weil ich ihn anders halte.

Und da ist noch etwas: Ich mag mich. Ich mag die Frau, die ich heute bin und ich mag mein Leben. Ich möchte keine andere sein; möchte mein Sein mit niemanden auf der Welt tauschen. Doch all das, was ich bin, bin ich aufgrund meiner Erfahrungen; – auch oder vielleicht sogar vor allem gerade wegen aller Arschkarten-Erfahrungen. 

Abschliessend zu dieser kleinen Nabelschau möchte ich noch hinzufügen, dass ich es als grundlegende Gnade empfinde, überhaupt am Leben zu sein. Und dies ist für mich das unverdiente Geschenk – ich habe es mir nicht verdient, am Leben zu sein, ich bin es einfach. Das Leben wurde mir geschenkt. Einfach so.

Wenn Gnade zynisch klingt

Die Aussage „Alles ist Gnade“ hinterlässt bei mir aber auch einen zwiespältigen, bitteren Nachgeschmack. Und zwar sobald ich den Blick von meiner eigenen Welt abwende und auf die Lebenswirklichkeit anderer richte.

Kürzlich sah ich eine Dokumentation über Zwangsarbeit und Folter in den Gefängnissen eines asiatischen Landes. Angesichts der Hölle, die die Häftlinge dort ertragen müssen, wirkt dieser Satz wie blanker Zynismus. Und solche Beispiele gibt es leider zur Genüge.

Damit bin ich beim Theodizee-Problem, das unter den Philosophen und Theologen für Kopfzerbrechen sorgt: Es geht um die Vereinbarkeit von Gottes Eigenschaften wie zum Beispiel die der Allmacht oder der Güte und dem gleichzeitigen Vorhandensein von Leid und Horror in der Welt. 

Es gibt zwar verschiedene Erklärungsansätze (Gott hat uns einen freien Willen gegeben; Leid macht stärker; Leid muss sein sonst gäbe es auch keine Freude; wir Menschen können mit unserer begrenzten Sicht Gottes Plan gar nicht erkennen, … ), aber keine Lösung, die wirklich zufriedenstellend und in sich konsistent ist. Das Thema ist heikel und ein Dauer-Burner. Ich lasse es deshalb so stehen. 

Bei dem Thema Zynismus fällt mir aber auch diese Kategorie von Menschen ein, die anderen, die mit schwierigen Situationen struggeln, mit wohlfeilen Sprüchen kommen: „Sieh es doch als Geschenk“ oder „als Lektion“. Da stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Ich empfinde das als toxische Spiritualität oder auch als Spiritual Bypassing. 

Für mich schält sich heraus: Die Aussage „Alles ist ein göttliches Geschenk“ in ihrer absoluten Form ist fehl am Platz, wenn sie Unrecht, Grauen und Leid trivialisiert. Und das zeigt für mich auch, wie essenziell es ist, spirituelle Konzepte kontextsensibel, behutsam und differenziert zu betrachten.

Die Gnade der Wahlfreiheit

Dennoch bleibe ich bei der Frage hängen: Geht das überhaupt, Gnade in oder nach Extremsituationen zu empfinden? 

Ich denke da an Viktor Frankl. Viktor Frankl, der ein österreichischer Psychiater und Holocaust-Überlebender war und durch sein Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ weltweit bekannt wurde. Er hat das Konzentrationslager nicht nur überlebt, sondern inmitten dieser dunkelsten Dunkelheit einen Weg gefunden, Sinn zu bewahren. 

Wie ihm das gelang, darauf weist sein berühmter Satz hin: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen“. Frankl sagt, dass selbst in den finstersten Momenten uns die Freiheit bleibt, unsere Perspektive zu wählen und etwas zu finden, das uns trägt. 

Damit reiht sich Frankl in eine lange Tradition von Philosophen und Psychologen ein, die betonen, dass weniger eine Erfahrung selbst zählt, sondern die Art und Weise, wie wir sie deuten und ihr begegnen. Und damit schliesst sich auch der Kreis zum eingangs zitierten Hartmut Rosa und seiner Liebesbeziehung zu den Menschen, Räumen, Dingen und Werkzeugen, denen wir begegnen und mit denen wir zu tun haben.

Zugleich bleibt für mich die Vorstellung, dass selbst die tiefste Dunkelheit Gnade birgt, herausfordernd. Einen möglichen Umgang mit dieser Herausforderung deutet die letzte Zeile des Baltischen Haussegens an: „Fürchte dich nicht.“ 

Vertrauen fassen 

Einige Theologen behaupten, dass der Satz „Fürchte dich nicht“ der am häufigsten vorkommende in der Bibel ist. Er soll rund 365 Mal auftauchen, mal wörtlich genau so, mal anders formuliert. Doch im Kern immer gleich: Hab’ keine Angst. Oder anders ausgedrückt: Vertraue. Oder noch mal anders ausgedrückt: Entspanne dich. 

Zu der Bibel mag man stehen, wie man will. Zugleich finde ich es interessant, dass in dem meistgelesenen Buch der Welt die häufigste Aussage sein soll: „Entspanne dich. Vertraue.“

Ich stelle mir die Frage: Was geschieht, wenn ich mich in einer schwierigen Situation dazu entscheide, zu vertrauen? Ich lasse die Kontrolle los. Ich gebe von Schritt zu Schritt mein Bestes und überlasse den Rest, das grosse Ganze, dem Universum (oder Gott) und hoffe, das alles in irgendeiner From an seinen Platz fällt. 

Von dem, wie es gelingen kann

Wie lerne ich nun, die Wellen des Lebens zu surfen – die vermeintlich guten und die vermeintlich schlechten – und dabei zu wissen, dass alles irgendwie okay ist? Ein Weg stellt für mich das „Welcoming Prayer“ von Thomas Keating dar. 

Thomas Keating war ein amerikanischer Mönch und einflussreicher spiritueller Lehrer. Er entwickelte zusammen mit anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft das „Welcoming Prayer“, – eine Art Vehikel, um mit Stress und Drama umzugehen zu können. 

Das „Welcoming Prayer“ ist für mich eine Art Stossgebet, das mir hilft, schwierige Emotionen anzunehmen, ohne sie wegzudrücken oder mich von ihnen überwältigen zu lassen. Es ist wie ein Arschkarten-Hack, um ruhig und zentriert zu bleiben, ganz gleich, was um mich herum und in mir los ist.

Welcome, welcome, welcome.
I welcome everything that comes to me today
because I know it’s for my healing.
I welcome all thoughts, feelings, emotions, persons, situations, and conditions.
I let go of my desire for power and control.
I let go of my desire for affection, esteem, approval and pleasure.
I let go of my desire for survival and security.
I let go of my desire to change any situation, condition, person or myself.
I open to the love and presence of God and God’s action within. 
Amen.

Willkommen, willkommen, willkommen

Das Leben gelingt, wenn wir es lieben. Da habe ich angefangen. Liebe ist für mich bedingungsloses Willkommenheissen, die tiefe Annahme von allem. Und in diesem Sinne gefällt mir diese Version des Baltischen Haussegens ebenfalls sehr: 

Wechselnde Tage,
Freude und Leid,
alles ist Leben,
nehme es an.

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