Ihr müsst mehr Dorf in euer Leben lassen!

Was man von hier aus sehen kann 
Mariana Leky


Ein buddhistischer Mönch, der unglaubliche Essenssmengen vertilgt. Ein Optiker, der sich von seinen inneren Stimmen anrempeln lässt. Ein Gewichtheber mit tragischem Ende. Eine Grossmutter, die von Okapis träumt. Ein Dorf, in dem sich niemand an eine Liste hält. Aus all dem und noch Vielem mehr hat Mariana Leky ein wundervoll melodisches, unaufdringliches Buch gestrickt. 

Ich liebte es, das Buch zu hören. Eine mit grossem Herzen geschriebene Hommage an das unaufgeregte Leben von Dorfbewohnern. Ein Leben, das sich zwischen Pendeln in die Kreisstadt, einem kitschigen Geschenkideenladen und einer amourösen Eisdiele abspielt. Ein Leben, das mit all seinen Aufhockern, Schicksalsschlägen und Dingen, die ständig von der Wand fallen, eben doch alles andere als banal und langweilig ist. 

Der Roman huldigt die mitunter skurril anmutende und bildreiche Akrobatik, zu der unsere Seele fähig ist. Und er ehrt das Zusammenhalten der Dorfbewohner über alle individuellen Schrulligkeiten hinweg. Ehrt die Selbstverständlichkeit, mit der man den anderen so nimmt wie er ist. 

Vom Leben, das falsch abbiegt und vom Umgang damit  

Luise wächst mit zwei Elternteilen auf, die überwiegend mit sich beschäftigt sind. Ihre Eltern sind Randfiguren, die in ihrer inneren Abwesenheit hier und da in den Roman hinein ploppen.

Luises bester Freund heisst Martin, der von seinem alkoholkranken Vater zuhause geschlagen wird. Martin gleicht dies mit einem imaginären Leben als Gewichtheber aus.  Und wenn es sein muss, stopft Martin sich auch schon mal heimlich eine eklige Mahlzeit in seine Hose, damit Luise sie nicht essen muss.

Luises Heimat ist ein typisches Dorf-Biotop in der deutschen Provinz, – mit schrägen Figuren wie der abergläubischen Elsbeth, der ständig missmutigen Marlies und dem riesigen Hund Alaska, der die ganze Sehnsucht des Vaters in seinem Namen trägt.

Der Kit, der Luises Welt zusammenhält, besteht aus ihrer pragmatischen Grossmutter Selma und dem wissbegierigen Optiker. Die beiden sind auch die Rettung für Luise, als das Leben dann falsch abbiegt: Martin kommt bei einem Unfall ums Leben.

Da braucht es lebendige, warmherzige und stoische Felsen in der Brandung, die helfen, das Leben neu zu beginnen indem man es weiter führt. Betulich sind Selma und der Optiker für Luise da. Tragen und fahren sie, helfen ihr behutsam damit umzugehen, dass die Welt nun aus „Die Welt minus eins“ besteht.

Auch später, als Luise als Jungerwachsene mit akuten Verstockungen und mit ihrem Ausbilder kämpft, sind Selma und der Optiker die Bande, die ihr Leben zusammenhalten. Gehen mit ihr spazieren, wählen zur rechten Zeit die lange Telefonnummer, die in Japan ein Telefon klingeln lässt, preisen ihre Buchempfehlungen.

Luise lernt unterdessen Frederik kennen und lieben, einen buddhistischen Mönch. Es ist die Art von Beziehung, die ohne grosse Rosaroten-Brille-Dramen auskommt. Die sich zwischen einem schiefen Regal und Japan entfalten darf – über einen langen Zeitraum hinweg.

Und schlussendlich ist es genau dieses Dorf im Westerwald, das Frederik eine neue Heimat gibt.

Weisser Neid

Während des Hörens suchten mich Anflüge von Neid heim.

Wie sehr hätte ich mir für die Wirren meiner Kindheit solche Ankerpunkte gewünscht: Menschen, die anwesend sind, die greifbar sind. Die Orientierungs- und Ruhepunkte in einer Welt bilden, die auseinander zu fallen scheint. Die sich engagieren. Die genug Lebenserfahrung und Gelassenheit besitzen, um zu wissen, dass man manchmal die Dinge auf eigenem Weg lösen muss.  Und die einen geduldig dabei begleiten.

Im Austausch mit einer Freundin, der ich von meinen Empfindungen erzählte, lernte ich den Begriff „weissen Neid“ kennen. Auch wohlwollender oder konstruktiver Neid genannt. War mir bis dato unbekannt. Ein Anreiz für mich, einen kleinen Ausflug in die Welt des Neids zu machen.

Neid ist ein ziemlich tabuisiertes Gefühl, denn es ist mit Scham verbunden. Wenn ich Neid zugestehe, sage ich damit etwas über mich aus: über das, womit ich mich im Vergleich unzulänglich oder minderwertig fühle. Neid stellt eine Differenz her und hat damit grundlegend eher trennenden Charakter.

Neidfrass führt zur Abwertung, zu Missgunst. Oft mit dem Wunsch verbunden, der Beneidete möge die beneideten Güter oder die beneideten sozialen Beziehungen verlieren. Neid gilt manchen deshalb als die heimtückischste aller Todsünden. Garstigkeit, Häme und Schadenfreude entspringen aus ihm. Und Neid ist nicht zu unterschätzen, er vermag ganze politische Bewegungen und gesellschaftliche Umwälzungen in Gang zu setzen.

Neid hat aber auch motivierenden, inspirierenden Charakter. Der wohlwollende Neid sieht die ausgemachte Differenz als Ansporn, die beneideten Dinge selbst zu erreichen. Ohne dabei in die Abwertung zu gehen.

Wie gehe ich mit diesem weissen Neid nun um? Meine Kindheit vorbei, da kann mich noch so eifrig bemühen. Zudem hat das von mir so hoch geschätzte Loslassen inzwischen für solide Wundheilung und glatte Narben gesorgt. Gelegentlich jucken die Narben noch – wie beim Hören dieses Romans. Doch das haben Narben so an sich.

Was ich heute tun kann: Mich darin zu üben, selbst eine gute Optikerin, eine gute Selma sein. Dort zu unterstützen, wo Menschen, vor allem junge Menschen, Orientierung und Raum brauchen. Pragmatisch und von Herzen. Und ich bin dankbar, ein Wirkungsfeld gefunden zu haben, in dem ich das heute tun kann.

Einfühlsames, bezauberndes Kleinod

Zurück zum Buch, zurück zu Mariana Leky.

Sprachlich ist der Roman für mich ein Juwel. Eine wahre Wonne zu erleben, wie Mariana Leky Sätze bildet, mit einfacher Sprache Vielschichtigkeit entstehen lässt. Stilistisch herausragend.

Zusammengefasst: Der Roman ist für mich ein einfühlsames, bezauberndes Kleinod, das mehr Dorf in mein Leben gelassen hat. 

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