Nüchternheit als Qualität 

„Jesus spricht: Werdet Vorübergehende.“
Thomas-Evangelium, Logion 42


So kurz, so knapp, so kontextfrei steht er da: „Jesus spricht: Werdet Vorübergehende.“ Es ist der kürzeste Satz im Thomas-Evangelium. Er ist so kurz formuliert, dass der Satz selbst beinahe an mir vorbeigeht. Aber nur beinahe, ich bleibe an ihm hängen.

Werdet Vorübergehende. Das macht mich zunächst etwas ratlos. Zugleich fasziniert mich dieses Logion – gerade weil es nicht weiter erläutert wird, nicht eingebunden ist in eine Begebenheit. Die freigestellte Aussage bekommt mehr Gewicht. Sie trägt etwas Absolutes, Selbstverständliches in sich, das keiner Erläuterung bedarf.

Vielleicht ist es eine Ironie des Schicksals: Diese Aussage Jesu’ ging im wahrsten Sinne des Wortes an der Bibel vorüber. Das Thomas-Evangelium wurde nicht in den biblischen Kanon aufgenommen.

Gelassenes Gehen 

Werdet Vorübergehende – das klingt nach einer gewissen Rastlosigkeit und Gleichgültigkeit. Heute hier, morgen dort und was kümmert mich der Rest. Wer immer reist, lässt sich nicht greifen oder auf etwas festlegen.

Jesus, bist du ein unverbindlicher Hallodri? 

Okay, gehe ich es mal langsam an. Und korinthenkackerisch genau. Bei so einem kurzen Logion muss ich es wortwörtlich nehmen. Was bleibt mir auch anderes übrig?

Jesus spricht vom Gehen. Er spricht nicht vom Spazierengehen oder vom Rennen, Eilen, Hasten, Fliehen oder dergleichen. Es geht also nicht darum, sich aus dem Staub zu machen. Auch ums Lustwandeln oder Sich-Treiben-Lassen gehts wohl nicht. 

Und da ist noch das Vorüber. Ein Adverb. Neben einer Person, Personen, einem Geschehen oder Sache her und von ihr wegzugehen. 

Vorübergehen klingt gelassen. Es fühlt sich unberührt an. Die Dinge nicht an mich heranlassen und weiter gehen. Da denke ich erneut an das Wort gleichgültig. Gleich-Gültig. Wenn alle Dinge die gleiche Gültigkeit besitzen. Sie mich weder übermässig stark anziehen oder abstossen. Einfach weitergehen. Weder fasziniert stehen bleiben, noch entsetzt zurückweichen.

Zeitlose Nöte der Menschen 

Ich sehe Jesus vor mir. Wie er mit einem langen Gewand, flatternden Haaren und Sandalen an den Füssen durch sonnenverbranntes, steiniges Land geht.

Ich fühle mich angegriffen: Klar, denke ich mir, Jesus, für dich war es einfacher mit dem Vorübergehen. Du hast nie eine Corona-Pandemie erlebt. Du warst nie samstags bei IKEA einkaufen. Deine Eltern waren keine traumatisierten Kriegskinder. Du kennst die Schäden nicht, die kapitalistische Gesellschaften dem Klima und Menschen zufügen können. Oder die Gefahren von Kriegstreibern im Atomzeitalter. Du latschst durch die Natur und verteilst kluge Ratschläge.

Zugleich weiss ich, dass ich ungerecht bin. Auch früher gab es Kriege und Morde. Menschen gingen fremd und spannen Intrigen. Es gab Krankheiten und Seuchen, Hungersnöte und Erdbeben. 

Gelassenes Werden

Werdet Vorübergehende, das klingt ferner ruhig und sanft. Obwohl es ein Imperativ ist. Erstaunlich. Doch für mich klingt es mehr wie ein freundlicher Ratschlag, eine Empfehlung. Nicht wie ein Befehl oder ein Du-sollst-nicht-Gebot à la Moses.

Ausserdem habe ich Zeit – ich soll Vorübergehende erst noch werden, nicht sein. Anders läse es sich, hätte er gesagt: Seid Vorübergehende. 

Ich krisengeschütteltes Menschenkind des 21. Jahrhunderts. Hin und her gerissen zwischen Selfcare und Selbstoptimierung, zwischen Konsumwunsch und Nachhaltigkeit, zwischen Integrität und Leistungsanspruch, habe ich die Erlaubnis zu werden. Ich muss es noch nicht sein. Das nimmt Druck raus.

Befristetes Vorübergehen auf Erden 

Und – apropos Druck rausnehmen: Vorübergehende bin ich bereits. Nicht nur die Dinge gehen vorüber, auch ich gehe vorüber. Mein Leben hat einen Anfang, es dauert eine Zeit und irgendwann ist es vorbei und dann bin ich vorübergegangen.

Irgendwann gehe ich wie ein Regentropfen ins Meer zurück. Noch bin ich im Flug. Und etwa 25 Jahre nach meinem Aufgehen im unendlichen Meer wird niemand mehr von mir sprechen oder mich erinnern. (Das haben kluge Statistiker so ausgerechnet). Ich lebe als Zeitliche in der Zeit, nur vorübergehend. Und es kommt die Zeit, in der mich keiner mehr kennt.

Durchlaufen lassen    

Während des Schreibens dieses Beitrages werde ich seelisch erschüttert. Erschüttert von einem für mich unvorhersehbaren Vorfall. Ich weiss, Vorfälle sind meistens unvorhersehbar. Will sagen: Ich habe umsichtig und in bester Absicht gehandelt und bin dennoch gleich zwei Arschengeln in die Hände gefallen. Da hat das Universum echt mal durch Übereifer geglänzt. 

Mein Erwachsenen-Ich vermag die Situation nicht zu halten. Ich lasse die Gefühle fliessen. Ich weiss: Es wird vorüber gehen. Ich fühle mich eher als die Durchlaufenlassende. Lasse fliessen, fühle, reflektiere, verbinde mich. 

Ich frage mich: Bin ich damit zugleich eine Vorübergehende? Wenn mich etwas „triggert“ und Aufregemuster in mir hoch poppen wie Cookie-Fenster auf Websites?

Ich merke, Vorübergehende zu werden heisst für mich, einen anderen Standpunkt zu mir selbst zu finden. Das, was da so triggert, anders einzuordnen. 

Selbst die schrecklichsten Dinge in meiner Biographie habe eine unpersönliche Komponente. Sie haben sich immer schon ereignet und es gibt unzählige Menschen, die Ähnliches erlebten. Das soll sie nicht gutheissen. Es geht darum, auf mich selbst einen nüchternen Blick zu erhalten. Klarblickend, pragmatisch, stoisch. So putze ich meine Wohnung, lege Wäsche, erstelle Linoldrucke. Und übe mich Vorübergehende an den Dramen meines eigenen Lebens zu sein. 

Beweglich sein. Da sein. 

So kurz, so knapp, so vielschichtig: „Jesus spricht: Werdet Vorübergehende.“

Für mich ein Aufruf zur Demut. Mich einzuordnen hinsichtlich meines Daseins auf der Erde und hinsichtlich der inneren und äusseren Dramen, die ablaufen. 

Und da ist noch was. Für mich sagt der Satz auch: Werdet wie das Leben. Seid in Bewegung, im Fluss des Lebens, sagt ja zur Veränderung. Klammert euch nicht an das, was vergeht. Sondern ruht in dem, was in dieser Reise vom Himmel bis ins Meer Dauer hat: Das Sein.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert