Perlen der Erkenntnis 

Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und die Didymos Judas Thomas aufgeschrieben hat. Und er sagte: Wer die Auslegung dieser Worte findet, wird den Tod nicht kosten. 
– Thomas-Evangelium, Eingangsworte und Logion 1 


Ich habe Lust, mich mit dem Thomas-Evangelium zu beschäftigen. Und ich denke, dann fange ich doch einfach am Anfang an und schnappe mir den ersten Satz. 

Zugleich will ich mich als Greenhorn nicht gänzlich blindlings kopfüber in die Arbeit stürzen. In Sachen Interpretation alter Schriften bin ich ein Frischling. Das muss zwar nicht unbedingt ein Nachteil sein, doch es schadet nicht, mich zumindest kurz auf der Landkarte umzuschauen, bevor ich durchs Gelände stapfe. 

Zur Vorbereitung tauche ich also erstmal ganz vorsichtig meinen grossen Zeh in das schwindelerregend unübersichtliche und grosse Meer der Evangelienwelt. Voll von Begriffen wie Apokryphen, Gnosis, Kanonisierung oder Apostel. Doch ich brauche das als Orientierung, um das Thomas-Evangelium für mich auf der Landkarte verorten zu können. 

Das Thomas-Evangelium ist nämlich eine Schrift, die es nicht in die Bibel geschafft hat – und trotzdem beansprucht, echte christliche Weisheit zu enthalten. Wie kam es dazu?

Frau Momos Crash-Kurs in Sachen Bibel-Kanon

Vielleicht ist erstmal wichtig zu wissen, dass die Bibel kein Buch „aus einem Guss“ ist, sondern im Kern eine Sammlung von unterschiedlichen Texten. Da gibt es alles Mögliche: Erzählungen, Gesetze, Gedichte, Weisheitssprüche, Prophetenworte, Endzeit-Visionen und Briefe. Alle diese Texte spiegeln unterschiedliche historische Kontexte, Autorenkreise und theologische Interessen wider. Die Bibel ist, wenn man so will, ein wilder Mix oder ein heiliges Potpourri. 

Und in der Bibel sind bei Weitem nicht alle Texte drin, die Wissen oder Geschichten aus der jüdisch-christlichen Tradition weitergeben wollen. Neben der Bibel gibt es da nämlich noch eine ganze Menge anderes Material. Das gilt auch für das Neue Testament – also für den Teil, in dem es um Jesus geht.

Nach dem Tod von Jesus kursierten eine Vielzahl von Überlieferungen, die über sein Leben, sein Wirken und seine Worte erzählen. Diese wurden erst mündlich weitergegeben (ich stelle es mir vor wie ein Stille-Post-Spiel) und nach und nach schriftlich festgehalten. Die Berichte über Jesus unterschieden sich in Details und deshalb konkurrierten sie miteinander.

Darüber, wie authentisch die einzelnen Überlieferungen sind; wann sie genau von wem mit welcher Motivation verfasst wurden; welche Quellen zugrunde liegen und wer vielleicht wo abgeschrieben hat – darüber wird bis heute heftig geforscht und gestritten. Und das unabhängig davon, ob die Schrift nun in der Bibel ist oder nicht. 

Der Bibel-Kanon, also die Zusammenstellung der Bibel, die wir heute kennen, hat sich mit der Zeit herausgebildet. Warum manche Schriften in den Kanon kamen und andere nicht, hatte viele Gründe: Welche Überlieferungen in Gottesdiensten so üblicherweise gelesen wurden; diverse Glaubensstreitereien und Machtfragen spielten eine nicht unerhebliche Rolle; Zweifel an der Echtheit bestimmter Schriften; die regionale Verbreitung einzelner Schriften und damit ihre Bekanntheit… kurz: die Kanonisierung war ein langer und komplexer Prozess. Er hat sich über Jahrhunderte erstreckt. 

Zusammengefasst gesagt: Die Bibel ist vollgestopft mit Texten aus ganz unterschiedlichen Ecken – aber längst nicht alles, was damals im Umlauf war, hat es hineingeschafft. Und das Thomas-Evangelium ist genau so ein Text, der draussen blieb. 

Was hat es mit dem Thomas-Evangelium auf sich?

Das Thomas-Evangelium war lang verschütt gegangen. Man wusste zwar von seiner Existenz, denn es gab Hinweise von altchristlichen Schriftstellern, die es erwähnen und zum Teil zitieren, doch erst 1945 wurde in Ägypten eine vollständige Abschrift gefunden. Mit diesem Fund konnte auch sichergestellt werden, dass es allerspätestens im 2. Jahrhundert geschrieben sein musste. Aber einige wenige Forscher datieren seine Entstehung gar auf 70-80 nach Christus.

Das Thomas-Evangelium hebt sich von den in der Bibel enthaltenen Evangelien ab, denn es ist auf den ersten Blick nur eine lose Sammlung von 114 Sprüchen. Es ist keine zusammenhängende, fortlaufende Erzählung. Vielleicht eine „Best-of“-Liste? Best of Jesus? 

Es wirkt auch sonst eher wie ein wildes Sammelsurium: Eine Struktur ist nicht erkennbar. Einige aufeinanderfolgende Sprüche scheinen assoziativ miteinander verbunden, andere nicht. Einige Sprüche kennt man bereits aus der Bibel, andere interessanterweise nicht. Enthält es Bonus-Material zur Bibel? 

Die Entstehungsgeschichte, also wer wann wo mit welcher Absicht und aus welcher Tradition heraus dieses Dokument angefertigt hat, ist Gegenstand heftiger Diskussionen und nicht zufriedenstellend geklärt. Vor allem die Frage, inwieweit das Dokument wirklich Zeugnis des Wanderpredigers Jesu ist, spaltet die Geister, weil die Inhalte punktuell ein anderes Licht auf Jesus werfen als das, was wir aus der Bibel gewohnt sind. 

Einig sind sich die Forscher aber in einem Punkt: dass es zwar Thomas-Evangelium heisst und man denken könne, Thomas, ein Jünger und Apostel von Jesus, habe es geschrieben, aber das dem nicht so ist. 

Klingt erstmal nach einer herben Enttäuschung. Aber ich erfahre, dass das damals gang und gäbe war. Schon damals wurden Texte unter fremden Namen rausgehauen. Auch bei den in der Bibel enthaltenen Evangelien geht die überwältigende Mehrheit der Historiker davon aus, dass diese nicht direkt von den Aposteln verfasst wurden. Also nicht von den Menschen, die Jesus gekannt und begleitet haben. Sie stammen von späteren Autoren, die sich auf Überlieferungen stützten – aber ihre Texte unter den Namen bekannter Apostel veröffentlichten. Sie machten sozusagen einen antiken Fake-Account auf. Ähnlich ist es mit dem Thomas-Evangelium. 

In all diese und weitere historischen Diskussionen und Forschungen kann man sich kilometertief hineinknien. Doch da ich nicht vorhabe, Religionshistorikerin zu werden und zwischen dicken Folianten Staub anzusetzen, belasse ich es bei der Frage um die Entstehung des Thomas-Evangeliums hierbei. Auch in die Diskussionen um korrekte Übersetzungen mag ich mich nicht einmischen. Nach dem Motto: Einen Tod muss man sterben, habe ich mich einfach intuitiv für die Übersetzung von Katharina Ceming und Jürgen Werlitz entschieden. 

Genug des Vorgeplänkels, ich lege los. 

Die Spruchsammlung des Thomas-Evangeliums wird mit diesen Worten eingeleitet:

Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und die Didymos Judas Thomas aufgeschrieben hat. Und er sagte: Wer die Auslegung dieser Worte findet, wird den Tod nicht kosten.

Dies sind die verborgenen Worte, … 

In einer anderen Übersetzung heisst es, dass es die geheimen Worte seien. Spannend: Da habe ich es schon wieder mit einem Geheimnis zu tun. 

Von einem Geheimnis zu sprechen klingt in meinen Ohren immer ein bisschen elitär und trennend. So nach dem Motto: hier die Eingeweihten, dort die Ahnungslosen. Es schwingt für mich oft auch ein leichter Verschwörungs-Vibe mit, als gehe es um Wissen, das die Mächtigen lieber unterdrücken würden. 

Das Wort verborgen hat aber auch noch eine andere Bedeutung – im Sinne von unbemerkt, ungesehen, im Hintergrund, dem Offensichtlichem entzogen. Fast wie etwas, das da ist, aber nicht beachtet wird.

Will das Thomas-Evangelium darauf hinweisen, dass es Worte Jesu gibt, denen zu wenig oder gar keine Bedeutung beigemessen wurde? Dass da noch Perlen herumliegen, die bisher niemand gesehen und aufgehoben hat? 

Zudem sagt dieser erste Satzteil aus, dass es um Worte geht. Es geht nicht um Erfahrungen, Geschichten oder Taten von Jesus – sondern ausdrücklich um Worte. Damit habe ich den Hinweis, dass es – im Unterschied zu den Evangelien, die in der Bibel enthalten sind – nicht um das Leben und das Wirken von Jesus insgesamt geht. Das erklärt auch, warum es keine fortlaufende Erzählung ist, sondern lediglich eine Zusammenstellung von Aussprüchen.

Kurz gesagt: Es geht um Worte, die aus irgendwelchen Gründen nicht gehört wurden. 

die der lebendige Jesus sagte, 

Okay, das klingt erstmal ein bisschen cringe für mich: Warum die Betonung auf den lebendigen Jesus? Natürlich muss er die Worte gesagt haben, als er noch lebte. Was sonst? 

Soll damit angedeutet werden, dass dem Jesus nach seinem Tod durch die zahlreichen Überlieferungen etwas in den Mund gelegt wurde, was er gar nicht gesagt hatte? 

Das kann ich freilich schwer beurteilen. Ich lasse das mal so stehen und wende mich dem Wort lebendig zu. 

Lebendig ist das gegenteilige Adjektiv zu tot. Mir fallen Beispiele ein, wie wir heute ‚lebendig‘ verwenden: Wir reden etwa von ‚lebendigem Wissen‘, einer ‚lebendigen Schule‘ oder davon, dass jemand ein ‚lebendiger Erzähler‘ ist. Lebendig in diesem Sinne heisst wirkend, wirksam, wach, rege, in aktiver Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt. 

Von Jesus wird zwar gesagt, dass er ein Wanderprediger war, aber er war wohl kein verkopfter Theoretiker. Wenn man den Evangelien in der Bibel Glauben schenken darf, ging er nicht nur predigend umher. Er nahm sich aktiv denen an, die krank oder verschmäht waren. Auch konnte er mal richtig wütend werden – schnauzte seine Jünger an und warf Händler aus dem Tempel. Er war ein lebendiger, agierender Mensch. 

Ich halte mal für mich fest: Im Thomas-Evangelium finde ich bisher ungehörte Worte, die Jesus sprach, als er mitten in seinem Wirken war, voll im Geschehen, mit Leib und Seele am Werk. Klingt nach Herzblut. Wie verlockend! 

… und die Didymos Judas Thomas aufgeschrieben hat.

Was kann ich zu diesem Satzteil noch herausfinden, wenn mir doch bereits klar ist, dass nicht Didymos Judas Thomas persönlich diese Worte niederschrieb?

Eine ganze Menge. Denn ich bin mir sicher: ein Alias-Name wird selten zufällig gewählt. Nomen est omen. Der Verfasser hätte sich auch Andreas oder Simon nennen können – aber er entschied sich für Thomas. Warum wohl? 

„Didymos“ ist Griechisch und bedeutet „Zwilling“. „Judas“ ist ein hebräischer Name und heisst so viel wie „der Gelobte“ oder „der Gepriesene“. Zur Zeit Jesu war er weit verbreitet und positiv besetzt – erst mit Judas Iskariot, dem Verräter, bekam der Name seinen dunklen Beiklang. „Thomas“ wiederum stammt aus dem Aramäischen und bedeutet ebenfalls „Zwilling“.

Genau dieses Bild des doppelten Zwillings finde ich bedeutungsschwer. Das kann doch kein Zufall sein. Das Zwillingssymbol ist vielschichtig erfahre ich bei meinen Recherchen. Zwillinge können für Dualität und Vielfalt stehen – und gleichzeitig für Einheit. Sie spiegeln das Doppelte im Menschen wider, etwa Innen- und Aussenleben. Oder sie verkörpern einfach eine andere Ausgabe desselben: ein Abbild, eine Spiegelung. 

Auch zu dem Namen Thomas forsche ich nach. In der Bibel ist er das Sinnbild des Zweiflers, des Ungläubigen, der erst durch eine konkrete, greifbare Erfahrung zum Glauben findet. Der Name Thomas steht also auch für eine Haltung: erst erleben, dann glauben. (Klingt in meinen Ohren übrigens ganz vernünftig.) Wir haben es hier also mit einem Namen zu tun, der einerseits „Zwilling“ bedeutet – und andererseits für jemanden steht, der Erkenntnis nur über eigene Erfahrung gewinnt.

Hui, ich muss mich gerade mal sortieren: Also, die nicht gehörten Worte Jesu, die er sagte, als er mit Herzblut so richtig bei der Sache war, wurden von einem Zwilling aufgeschrieben; von einem, der durch Erfahrung zu Erkenntnis kommt. 

Soll gesagt werden, dass ein leiblicher Zwilling von Jesu diese Worte aufschrieb? Dazu muss ich schreiben, dass es tatsächlich christliche Traditionen gibt, in denen Thomas als leiblicher Bruder Jesu gilt. Ich glaube aber, dass es hier nicht um eine biologische Frage geht. 

Es geht vielleicht vielmehr um ein geistiges Doppel oder Abbild, eine wesensverwandte Spiegelung, eine Art Blaupause. Jedenfalls denke ich, dass damit auch eine Nähe zu Jesus ausgedrückt werden soll. Aber eine Nähe, die nicht darauf beruht, dass man Zeit mit Jesus verbracht hat und ihn persönlich kannte, sondern weil man aus demselben Holz geschnitzt ist. Das zugrundeliegende Modell ist sozusagen dasselbe. 

In mir tauchen Bilder auf wie: Jede Schneeflocke ist einzigartig und zugleich ist sie wie alle anderen Schneeflocken. Jeder Wassertropfen ist einzigartig und gehört zugleich zum Meer. Jesus und Thomas sind äusserlich unterschiedlich, doch im Kern gleich. (Ja, das geht auch in Richtung göttlicher Funken, der in uns allen enthalten ist). 

Und Thomas ist ausserdem der, der sagt: „Hey, ich hab gezweifelt – aber durch Erfahrung hab ich’s kapiert.“ Vielleicht ein Hinweis darauf, wie die folgenden Sprüche gehandhabt werden sollen? 

Und er sagte: Wer die Auslegung dieser Worte findet, …

Die Formulierung Wer die Auslegung findet legt nahe, dass nicht jeder die Bedeutung findet. Wer findet sie? Jemand mit der Haltung eines Thomas‘? 

Jedenfalls geht es um die Auslegung der nun folgenden Worte. Das heißt: Entscheidend ist nicht nur das Lesen, sondern das Erfassen, das Verstehen. Es geht um Hermeneutik statt blosser Lektüre. Ich soll mir die Worte auf der Zunge zergehen lassen, sie in mir bewegen, nach ihrem Gehalt suchen, schmecken, kosten, hin und her wenden, bis sie sich mir erschliessen.

Damit ist gesagt, dass es sich um einen Text handelt, der der Interpretation bedarf – ein Text, der symbolisches Material enthält. Das bedeutet: Es gibt eine Ebene des Gesagten und eine Ebene des Gemeinten. Jesu Worte sind also mehrschichtig, rätselhaft, vielleicht sogar „verschlüsselt“. Es gilt, einen Code zu knacken.

Und da meldet sich nun die genervte Krittel-Liese in mir: Warum sagt er nicht einfach, was er meint? Warum dieses ganze verklausulierte Brimborium? Ist doch mühsam!

Aber ich lasse die Krittel-Liese kritteln und frage mich lieber: Warum nutzen Schriftsteller oder Erzähler Symbole, Gleichnisse oder Bilder, um etwas zu sagen? Dafür mag es viele Gründe geben – Kommunikationswissenschaftler könnten darüber sicher ganze Bände schreiben. Ich greife nur ein paar Aspekte heraus, die mir nach einer kleinen Recherche besonders wesentlich erscheinen:

Erstens: Sprache ist sowieso schon symbolisch. Wörter sind Zeichen, die auf Dinge, Handlungen oder Ideen zeigen – sie stehen dafür, aber sie sind es nicht. Kein Wort kann wirklich ersetzen, was man erlebt.

Zweitens: Bilder, Metaphern und Gleichnisse holen Komplexes auf den Boden der Tatsachen. Sie machen Abstraktes greifbar, bleiben besser hängen und treffen oft auch emotional mehr als reine Fakten. Sie helfen uns, mit dem Abstrakten klarzukommen.

Drittens: Symbolische Sprache lässt Spielraum – sie lädt dazu ein, selbst mitzudenken und reinzuspüren. Wer ein Bild entschlüsselt, macht sich aktiv auf Sinnsuche und entwickelt sein eigenes Verständnis.

Viertens: Verschlüsselte Sprache kann auch Schutz sein. Man kann Kritik oder unbequeme Wahrheiten verpacken, ohne sie direkt auszusprechen. Gerade in religiösen, politischen oder sonst irgendwie engen Kontexten kann das ziemlich clever sein. 

Ich bin also aufgefordert, mir die folgenden Sätze des Thomas-Evangeliums von innen her zu erschliessen. Damit schliesst sich dann auch tatsächlich der Kreis zur Figur des Thomas, der erst glaubt, wenn er mit eigenen Sinnen erfahren hat. Das heisst für mich aber auch: Glaube nicht einfach das, was du liest, sondern prüfe es sorgfältig.  

Oder kurz gesagt: Wer das Thomas-Evangelium verstehen will, kommt mit schnellem Durchlesen nicht weit. Mal eben drüberlesen, querlesen? Gibt’s hier nicht – und ist auch nicht gewollt.

… wird den Tod nicht kosten.

In einer anderen Übersetzung heißt es: „… wird den Tod nicht schmecken.“ Kosten? Schmecken? In Zusammenhang mit Tod? Darüber stolpere ich. Wenn ich an den Tod denke, denke ich nicht ans Schmecken oder Kosten. Du etwa?

Ich beschäftige mich aber erst mal mit dem Wort Tod. Für mich ist nach dem bisher Gesagten klar, dass hier nicht der physische Tod gemeint ist. Der Tod ist symbolisch zu verstehen, da gibt es für mich kein Vertun. Aber ich nehme den physischen Tod mal als Ausgangspunkt.

Zur Zeit Jesu war der Atemstillstand das einzige sichere Todeskriterium. Heute ist das anders: Medizinisch gilt meist der Hirntod – also der irreversible Ausfall der Hirnfunktion – als Definition. Zugleich gibt es bis heute keine universell akzeptierte Definition von Tod; philosophisch, medizinisch und spirituell bleibt das Thema offen. Aber auch heute noch bringen wir Leben eng mit Atem in Verbindung. Es geht nach wie vor darum, wann jemand seinen letzten Atemzug tut

Mit meinem nächsten Deutungsversuch hänge ich mich vielleicht etwas weit aus dem Fenster – aber das darf man ja mal. Eine mögliche Lesart ist für mich: Wer die Bedeutung dieser Worte findet, dem stockt nicht der Atem.

Der Atem stockt uns, wenn wir angespannt oder aufgeregt sind. Wenn wir entspannt sind, fliesst er. Wer die Bedeutung dieser Worte findet, bleibt gelassen. Wer diesen Text versteht, lebt entspannt. Das ist doch mal eine Aussage!

Aber ich forsche noch mal etwas weiter. Jesus sprach ja bekanntlich Aramäisch. Das aramäische Wort für „Tod“ ist מָוְתָא (mawta) – es bedeutet Tod, Sterben, Ende des Lebens. Im übertragenen Sinn wird es auch für Zerstörung, Unheil oder Verderben gebraucht, ähnlich wie das hebräische מָוֶת (mavet). Damit schließt sich für mich der Kreis zum Schmecken und Kosten: Wer diesen Text versteht, wird nichts Verdorbenes „kosten“. Oder anders gesagt: Wer diesen Text versteht, läuft nicht ins Verderben, läuft nicht ins Unheil. 

Auftakt mit Wumms 

Das war echt eine Reise. Mal sehen, ob ich das Ganze für mich rund bekomme. 

Das Thomas-Evangelium ist eine Schrift, die Zeugnis von den Worten Jesu ablegen will – von Worten, die bisher ungehört geblieben sind. (Und mal ehrlich: So geht’s heute ja vielen – sie fühlen sich nicht gehört, nicht verstanden. Aber das nur am Rande.) Es erzählt vom „lebendigen“ Jesus – also von jemandem, der mit ganzem Herzen dabei war. Aufgeschrieben wurde das Ganze von jemandem, der sich Jesus ebenbürtig fühlt und über eigene Erfahrung zu Erkenntnis gekommen ist.

Die Worte im Thomas-Evangelium wollen nicht einfach gelesen werden – sie wollen quasi inhaliert werden. Ihr Gehalt ist symbolisch, – vielleicht jenseits des reinen Verstandes, vielleicht jenseits klassischer Glaubenspraxis, vielleicht irgendwo ausserhalb des Mainstreams. Und gleich am Anfang steht ein grosses Versprechen: Wer den Code dieser Worte knackt, wer sie wirklich versteht, der wird nicht ins Verderben laufen.

Ehrlich, das ist schon eine ziemliche Ansage. Heute würde man wohl von Klick-Baiting sprechen, wenn man so etwas als Überschrift wählen würde: „Wenn du diese 114 verborgenen Dinge beachtest, fährst du dein Leben nicht gegen die Wand.“ Auf jeden Fall ist es eine Ankündigung mit Wumms. 

Mir scheint, dass dieses erste Logion vielschichtig ist: Es dient sowohl als einleitender Satz, als Anleitung zur Entschlüsselung der Worte und zugleich als Selbstbeschreibung. Thomas, der Prototyp des Zweifelnden und Suchenden, ist derjenige, der die Worte zu deuten versteht und so zur Erkenntnis gelangt. Zugleich hat er sie aufgeschrieben.

Und darum geht’s wohl: Wer wie Thomas neugierig bleibt, Fragen stellt und eigene Einsichten sucht, kann den tieferen Sinn entdecken – und „den Tod nicht schmecken“.

Das Logion will nicht, dass ich das Thomas-Evangelium nur lese und schnell ein Etikett drüber klebe, sondern dass ich mich darauf einlasse und schaue, was es innerlich auslöst. 

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