Vom göttlichen Wahn des Lesens 

Der Name der Rose
Umberto Eco 


Beim Stöbern in einem öffentlichen Bücherschrank fällt mir das Buch in die Hände. Ich erinnere mich prompt an den Hype, den es in den 80-er Jahren ausgelöst hatte. Und ich erinnere mich daran, wie ich als Jugendliche den Roman geradezu verschlungen habe. Damals, als Telefone noch mit einer Wählscheibe ausgestattet waren und Michail Gorbatschow politisch zur personifizierten Hoffnung avancierte.

Zugleich vermag ich mich nicht an den Inhalt erinnern. Mir ist absolut nichts im Gedächtnis haften geblieben – ausser der Tatsache, dass es sich um einen Krimi in einem Kloster handelt. Mich erstaunt und reizt genau dies: Wie kann von einem solch hochgelobten Machwerk nichts hängen bleiben? Zugegeben, aus dem Physik-Unterricht ist ebenfalls nichts hängen geblieben – den habe ich aber auch nicht freiwillig in mich aufgesogen. 

Ich taste mich etwas heran. Lese erst einmal quer über Umberto Eco. Entdecke, dass Google auch vom Lateinische ins Deutsche übersetzt. Tauche ein in das Jahr 1327, beschäftige mich mit Papst Johannes XXII, Ludwig, dem Bayern und Friedrich, dem Schönen. Schmunzle über diese Bezeichnungen. 

Ausgestattet mit Anis-Fenchel-Kümmel-Tee und Salmiak-Bonbons begebe ich mich auf eine Expedition in einen Roman, der neben dem zentralen Handlungsstrang – die Aufklärung von Todesfällen in einer Abtei – mit etlichen Abzweigungen und Nebengeschichten aufwartet.

Eine Erguss von philosophischen, theologischen, historischen, zeitgenössischen und literarischen Geschehnissen, Bezügen, Diskussionen und Zitaten ergiesst sich auf mich herab. Schnell wird mir klar, warum ich mich an den Inhalt nicht erinnere: Wahrscheinlich habe ich damals diese Informationsflut einfach durch mich durchrauschen lassen.

Ausgerechnet Mittelalter 

Ich versenke ich mich also mit „Der Name der Rose“ ins Mittelalter. 

Puh! Ausgerechnet ins Mittelalter! Mit dem habe ich es eigentlich nicht so. 

Mein bisheriges Geschichtsempfinden könnte ich – salopp formuliert – wie folgt beschreiben: Erst waren da die alten Hochkulturen, die richtig was auf die Beine gestellt hatten; komplexe und ausdifferenzierte Gesellschaften hervorbrachten. Dann folgte das finstere Mittelalter, das sich durch dumpfe Religiosität, Inquisition, Hexenverbrennungen und mörderische Glaubenskriege einen unrühmlichen Namen gemacht hat. Erst nach dem Mittelalter ging es wirklich weiter. Die Entdeckung Amerikas, die Erfindung des Buchdrucks, die Französische Revolution und – schwupps – folgte eine rasche Abfolge von Entdeckungen, Erfindungen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine Dynamisierung von gesellschaftlichen Prozessen setzte ein. 

Doch mein Geschichtsempfinden verändert sich beim Lesen. Trotz all der unsäglichen mittelalterlichen Taten (die Taten des 21. Jahrhundert sind übrigens ebenfalls unsäglich) sehe ich das Mittelalter mittlerweile auch als eine Phase intensiver religiöser, politischer und kultureller Gärung. Umberto Eco hat das auf eine äusserst geschickte und komplexe Weise ausgearbeitet.

Doch das wirkliche Mitverfolgen und Verstehen der Geschichte verlangt viel Nachschlagen von mir ab. Langsam hege ich den Verdacht, dass es Umberto Eco im Prinzip um etwas anderes geht als um mörderische Mönche. (Um was, dazu komme ich später). Das führt mich unweigerlich zu der Frage: Warum wählte Umberto Eco ausgerechnet das Mittelalter als Schauplatz seines Romans? Eco war ein studierter Philosoph und das Mittelalter war lediglich sein Hobby. 

In der Nachschrift zum „Der Namen der Rose“ finde ich eine Antwort. Das Mittelalter war offenbar mehr als nur ein Hobby Ecos. In einem Interview sagte er, kenne er die Gegenwart nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe er Kenntnis aus erster Hand.

 Nach einer Weile sagte ich mir, wenn das Mittelalter ohnehin mein tägliches Imaginarium ist, könnte ich ebensogut einen Roman schreiben, der unmittelbar in jener Epoche spielt.

Ich verstehe. Umberto Eco wollte ein Heimspiel machen anstatt ein Auswärtsspiel. Also ab ins Mittelalter!

Die immer gleichen Scharmützel 

Vielleicht war das Mittelalter ein Trick, ein Kunstgriff von Umberto Eco. Sein Interesse galt im Grunde den ewig währenden, zeitlosen Fragen der Gegenwart. Während des Lesens habe ich den Eindruck, dass zahlreiche Themen, über die die Charaktere im Buch hitzig debattieren, heute noch mehr als aktuell sind. Rund 700 Jahre später und 44 Jahre nach dem Erscheinen von „Der Name der Rose“. 

Es ist für mich ernüchternd und zugleich beruhigend, dass das Ringen mit bestimmten Fragen und Entwicklungen nichts von seiner Relevanz verloren hat. 

Ernüchternd, weil der Gedanke sich einschleicht, dass die Menschheit im Wesentlichen nicht vorangekommen ist. Es sind immer die gleichen Scharmützel, die die Gemüter bewegen. Manchmal denke ich genervt, dass unser ganzer „Fortschritt“ darin besteht, dass wir statt der Kanonenkugel des Mittelalters heute Atomwaffen, Drohnen und KI besitzen. 

Zugleich ist es beruhigend herauszufinden, dass wir nicht mit leeren Händen dastehen. Wir können auf einen reichen Scharmützel-Erfahrungsschatz zurückgreifen, um aktuelle Geschehnisse zu beantworten.

Verstockungsgefahr durch zu viel Inspiration

Ich mag die Diskussionen, denen sich die Figuren in dem Roman hingeben. 

Wie erlangt man zur Erkenntnis? Braucht es Tabubrüche, um frische Inhalte zu vermitteln und um der Erstarrung zu entkommen? 

In welchen Dienst stellt sich die Wissenschaft? Sollen neue Errungenschaften mit allen geteilt werden, selbst wenn dies das Risiko des Missbrauchs birgt? Und wer legt fest, was Missbrauch ist?

Ist es wirklich vorteilhaft, ständig nach Neuem zu streben? Wir werden heutzutage von Informationen überschwemmt, aber wissen wir wirklich mehr über die wesentlichen Dinge? Vielleicht ist wissen nicht das richtige Wort – erfahren wir mehr über die wesentliche Dinge? 

Kann man das Geheimnisvolle einer kühlen Prüfung, einer logischen Analyse unterziehen und inwieweit verdirbt man das Geheimnisvolle genau dadurch? Brauchen wir zum Verstehen immer auch das, was nicht verstanden werden kann?

Zu jeder dieser Fragen könnte die Philosophin in mir stundenlang recherchieren, lesen, forschen, lesen und munter Gehirnakrobatik betreiben. Und sie bilden eine höchst bescheidene, höchst subjektive Auswahl der Themen, die im Roman diskutiert werden. 

Der Name der Rose inspiriert mich dazu, meine Nase in Geschichtsbücher zu stecken. Mir wird klar, warum die Entwicklung und Gründungen von Städten gravierende Folgen für den Klerus hatte. Und warum es neue staatspolitische Modelle brauchte. Allmählich gelingt es mir, Begriffe und Orden wie die Spiritualen, Benediktiner und Franziskaner auseinanderzuhalten. Ich kann ihre sowie die Interessen aller weiteren politischen und religiösen Gruppen nachvollziehen. 

Und ich lese viel über einzelne Menschen, die im Mittelalter lebten. Wie beispielsweise über Abaelard, einem französischen Theologen und Philosophen. Er war durchdrungen vom Vernunftgedanken der damaligen Zeit. Gänzlich unvernünftig verliebte Abaelard sich jedoch in eine seiner Schülerinnen, in Heloisa. Sie wurde schwanger und gebar ein Kind. Es war zunächst unklar, wie es mit den beiden weitergeht, das ganze Drama endete jedoch vorläufig darin, dass der Onkel von Heloisa vor Wut Abaelard entmannen lies. (Schnipp, schnapp, Schwanz ab) Dieser widmete sich darauf hin zerknirscht dem Mönchsleben. Doch wider aller Erwartungen konnte Abaelard später noch eine ziemliche Karriere als Gelehrter hinlegen, aber nicht ohne beträchtliche Kontroversen auszulösen. Er starb 1142. Heloisa lies sich nach ihrem Tode im Jahr 1164 neben ihm bestatten.

Gebüsst und eingetreten 

Ich hielt mich für einigermassen gebildet, aber eine Korrektur des Selbstbildes schadet – wie so häufig – nicht. Also gewöhne ich mich daran, viele Fremdwörter nachzuschlagen. Oder könntest du aus dem Effeff sagen, was die folgenden Wörter bedeuten? Hoffärtig, realiter, dräuen, sentenziös, Scholie, venerabel, anagogisch, hienieden, Akzidens, Invention, desavouieren, Faun, Explikation, konziliant, Investitur, insinuieren … 

Wenn ich bedenke, dass das Werk in den 80-gern Furore machte – wie haben sich die Leser das Buch nur erschlossen? Insbesondere zu Beginn finde ich mich ständig dabei, im Internet zu recherchieren. Wahrscheinlich haben die Leser früher viel mehr das Talent gehabt, Fünfe gerade sein zu lassen und nicht aus jedem Informationskrümel einen Kuchen backen zu wollen. 

Umberto Eco war sich der anspruchsvollen Natur seines Werkes durchaus bewusst. Er sah es so: 

Nach der Lektüre des Manuskriptes meinten die Freunde im Verlag, ich sollte die ersten hundert Seiten ein wenig kürzen, sie seien zu anspruchsvoll und ermüdend. Ich hatte keinerlei Zweifel, ich lehnte ab mit dem Argument: Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage verbringen will, muss ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die Funktion einer Abbusse oder Initiation, uns wer sie nicht mag, hat Pech gehabt und bleibt draussen, zu Füssen des Berges. 

Ok. Ich habe ich Abbusse getan und bin eingetreten.

Der göttliche Wahn des Lesens 

Der Name der Rose ist also kein Buch, das man so weg liest. Irgendwann komme ich aber dennoch in einen zunehmenden Lesefluss. Mein Schullatein ist wieder zum Leben erweckt, ich bin vertrauter mit den einzelnen Charakteren, den Örtlichkeiten und dem Tagesablauf in der Abtei. Begriffe wie Aedeficum, Skriptorium, Dormitorium, Mette, Laudes und Komplet bereichern nun meinen Wortschatz.

Und so entfaltet der Roman in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit seinen Sog auf mich. Die Perlentaucherin in mir ist begeistert, auf jeder Seite, ja fast in jedem Absatz fündig zu werden. Ich liebe ich es, mir Schritt für Schritt eine ferne Welt zu erschliessen. Um meinen Lesesessel herum türmen sich Bücher, Notizen, mein MacBook für Recherchen, Teebecher, Bonbonpapier. Als ich anfange, mich über Studiengänge in Mediävistik (Mittelalterforschung) zu informieren, merke ich, dass ich in einem kleinen Wahn bin. Oder ist Manie das bessere Wort? 

Zugleich wird es ab irgendeinen Punkt anstrengend für mich, – Perlen sind in Hülle und Fülle vorhanden und jeder Tauchgang ist intensiv. So mache ich kurzerhand aus dem Lesen ein Entscheidungstraining. Wähle bewusst und schnell, bei welchem Informationsangebot die Kleinigkeitskrämerin in mir zum Zuge kommt oder wann ich die Perlen einfach dort lasse, wo sie sind. Zum Ende des Romans habe ich gelernt, nur bei jedem hundertsten Angebot in Tausendste zu kommen. Mit tiefem Zufriedenheitsgefühl und dem Wissen über die Identität des Mörders schliesse ich das Buch.

Bücher sind nicht dazu da, daß man ihnen blind vertraut, sondern daß man sie einer Prüfung unterzieht. Wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, dürfen wir uns nicht fragen, was es besagt, sondern was es besagen will – ein Gedanke, der für die alten Kommentatoren der Heiligen Schrift ganz selbstverständlich war. 

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