Toxische Scham & Selbstregulation
Befreiung von Scham und Schuld
Laurence Heller und Angelika Doerne
Don’t judge a book by its cover – so predigt es eine bekannte Metapher. Und es ist wahres Glück, dass ich dies tatsächlich nicht getan habe; also dass ich dieses Buch nicht by its cover gejudged habe.
Wobei ich mich eher am Titel als am Cover störte. Vom Titel her hätte ich mir das über 400 Seiten starke Hardcover-Teil nicht gekauft. Und auch die rund 46 Franken nicht berappt. Ich wusste aber, dass das Buch auf dem NARM-Ansatz basiert und der wiederum interessiert mich. Das bewog mich, trotz Vorbehalte gegenüber dem Titel, gutes Geld zu investieren und meine Nase tief in dieses Werk zu stecken.
Doch zunächst, bevor zu dem Inhalt des Buches komme, was ist der NARM-Ansatz?
NARM: Lernen, stressfrei in Beziehung zu sein
NARM steht für Neuroaffektives Beziehungsmodell (Neuro Affective Relational Model). Damit sind die inhaltlich wichtigsten Eckpfeiler genannt: Es geht um Neurologie (Gehirn und Nervensystem), Affekte (Emotionen, Gefühle, Gemütslagen und -wallungen) und Beziehungen (ums Bezogen-Sein).
NARM zeigt auf, wie der Körper, einschliesslich des Gehirns und des Nervensystems, die Gefühle und die Beziehung zu sich selbst und zu anderen wechselseitig aufeinander einwirken und uns zu den Menschen machen, der wir sind.
Der NARM-Ansatz vereint neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Selbstregulation mit Beziehungsdynamiken. Recht einfach und verkürzt formuliert geht es um die Frage, was das eigene Nervensystem macht, sobald es in Kontakt mit anderen Menschen ist.
Im Mittelpunkt der Arbeit mit NARM stehen Überlebensmuster, die ursprünglich in der Kindheit aus einem Verlust an Verbindung entstanden sind. Diese wirken sich bis ins Erwachsenenalter tief auf Identität, Emotionen, Körper und Verhalten aus.
Während einer NARM-Therapie werden diese im wahrsten Sinne des Wortes eingefleischten Beziehungsmuster durch Erkunden ins Bewusstsein gebracht. Und in dem Moment, wo ein blinder Fleck mit Begreifen gefüllt wird, da ist Veränderung möglich.
Das NARM bedient sich bei körperorientierten Therapieverfahren (es ist unter anderem aus dem Somatic Experience heraus entstanden) wie auch gleichzeitig bei psychotherapeutischen Verfahren. Die Psychoedukation, also die Aufklärung der Patienten über die in der Therapie erfahrenen Zusammenhänge von neuropsychologischer Selbstregulation und Beziehungsmustern, spielt eine zentrale Rolle.
Nun zu dem Buch „Befreiung von Scham und Schuld“:
Grundannahmen über sich selbst, die auf tiefverankerter Scham basieren
Scham, so dachte ich, das ist ein Gefühl, das ich nur gelegentlich empfinde. Wenn es im Leben halt so richtig schief läuft. Mit dem Gefühl von Schuld ging es mir ähnlich. Ich schätze, das ist auch der Grund, weshalb mich der Titel des Buches nicht ansprach. Doch die Lektüre des Buches setzte das Thema Scham und Schuld in einen für mich neuen Kontext.
Scham ist die Empfindung falsch zu sein. Unzulänglich, fehlerhaft, nicht gut genug. Bei der Empfindung von Schuld verurteilen wir uns, denn wir haben wir den Eindruck, ein bestimmtes Verhalten, ein Wunsch oder ein Gefühl von uns sei falsch.
Wenn uns in der Kindheit zentrale Bedürfnisse nicht erfüllt werden, entsteht nach den Autoren Laurence Heller und Angelika Doerne genau das: Das Gefühl von Scham und Schuld. Und zwar bei uns. Wir denken, mit uns stimme etwas nicht; wir denken, dass wir falsch seien. Wir entwickeln sogenannte schambasierte Identifikationen wie „Ich bin nicht willkommen“, „Ich bin nur eine Last“, „Ich vertraue niemanden“ oder „Ich bin nicht liebenswert“.
Nach Heller und Doerne sind es diese schambasierte Identifikationen, die uns im tiefsten Sein ausmachen. Sie sind der Motor für zahlreiche bewusste und unbewusste Verhaltens-, Erlebens- und Reaktionsmuster. Schambasierte Identifikationen sind wie stetes Gift, das tagtäglich feindosiert in unser System träufelt und uns unserer Lebenskraft raubt. Deshalb sprechen Heller und Doerne auch von toxischer Scham.
Eine milliardenschwere Selbstoptimierungsindustrie nutzt beispielsweise die tief verankerte Scham des „Ich muss Leistung oder Attraktivität zeigen, um geliebt zu werden“. Menschen mit dieser Prägung versuchen permanent, sich zu verbessern, sich zu entwickeln und an sich zu arbeiten. Und letztlich ist es gleich, ob sie dafür die plastische Chirurgie nutzen, die Karriereleiter oder den esoterischen Selbsthilfe- und Therapiemarkt. Die toxische Scham dahinter ist dieselbe: Der tief verankerte Glaube, dass man so, wie man ist, nicht liebenswert ist.
Scham als eine Hauptursache chronischen Stresses
Schambasierte Identifikationen sind nach Heller und Doerne eine der Hauptquellen für Stress im Körper. Sie werden wie eine Brille auf jede soziale Situation gelegt und reinszenieren auf diese Art und Weise den Stress des autonomen Nervensystems, den wir aus der Kindheit kennen. Eine aktivierte schambasierte Identifikation heisst übersetzt für das Nervensystem: Achtung, zentrale Bedürfnisse werden gerade nicht erfüllt, ich bin nicht in Sicherheit.
Obwohl der Verstand ahnt, dass diese Reinszenierung mit der heutigen Realität nicht unbedingt etwas zu tun haben muss, lösen die anderen Bestandteile des Gehirns die Stressreaktion aus: Anspannung, Sich-Bedroht-Fühlen, Habachtstellung. Passiert dies täglich, endet dies irgendwann in den typischen Mustern eines chronisch deregulierten Nervensystems: Reizbarkeit, Überforderung, Konzentration- und Schlafstörungen, Erschöpfung, Rückzug, Dissoziation, Depression, Sucht.
Das braucht es zur Heilung: Spürendes, somatisches Gewahrsein und ein Gegenüber
Der Weg aus einem von toxischer Scham durchzogenen Leben ist laut Heller und Doerne nicht mit reiner Willenskraft zu meistern:
Es ist ein Irrtum, allein mit unserem Willen und mit unserem Verstand nachhaltige Veränderungen zu erzielen, weil unsere Innenwelt nach anderen Gesetzmässigkeiten funktioniert, die weder eindimensional noch ausschliesslich rational-analytisch sind. Unsere Innenwelt ist mehrdimensional und komplexer, als dass persönliches Wachstum „willentlich gemacht“ werden könnte.
Alleine auf unserem Meditationskissen sitzend und mit der felsenfesten Absicht zur Veränderung gerüstet – so kommen wir nicht weiter. Jedenfalls nicht langfristig. Das ist, als ob wir am Lenkrad ziehen, ohne mit dem Rest des Gefährts verbunden zu sein.
Wir brauchen neben unserem Willen das autonome Nervensystem mit an Bord. Den mächtigen Teil des Eisberges, der zwar unter Wasser liegt, der aber im Zweifelsfalle immer gewinnt.
Dies gelingt, indem wir der Kommunikations- und Arbeitsweise des autonomen Nervensystems einen zentralen Raum geben. In diesem Raum geht es vor allem um das Wahrnehmen und Anerkennen von Gefühlen und somatischen Empfindungen, um die Entwicklung eines spürenden Gewahrseins.
Da schambasierte Identifikationen im Beziehungskontext entstanden sind, können diese auch nur im Beziehungskontext gelockert und gelöst werden. Mit einem Gegenüber, das gelernt hat, sich selbst zu regulieren, können neue Beziehungserfahrungen gemacht werden, die die alten Muster sozusagen überschreiben.
Fazit
Das Buch ist klar gegliedert. Zunächst wird geklärt, was Scham- und Schuldgefühle sind, wie sie entstehen und wie sie in Wechselwirkung zu Stress und Nervensystem stehen. Die NARM-Überlebensstile werden ausführlich vorgestellt und in den Zusammenhang mit Scham und schambasierten Identifikationen gebracht. Im vierten und letzten Teil werden die NARM-Prinzipien der Heilung und des Wachstums vorgestellt.
Grosses, grosses Manko des Buches ist meines Erachtens der Schreibstil. Dieser ist in aller erster Linie redundant. In dem Anliegen, jede auch nur erdenkliche Nuance toxischer Scham und ihrer Auswirkung einzufangen, werden sich ähnlich klingende Sätze unzählige Male reproduziert. Die Autoren sind sich dessen bewusst, gehen sie im Vorwort doch darauf ein. Leider verwässern diese zahlreichen Wiederholungen die Kernaussagen und machen es schwer, das Buch zu lesen.
Empfehlen würde ich dieses Buch vor allem Menschen, die merken, dass sie bestimmte unheilvolle Stress- und Beziehungsdynamiken wiederholen, ohne zu wissen, wie sie das bewerkstelligen. Hier kann das Buch blinde Flecken erhellen und wertvolle Anstösse in Richtung Veränderung geben.