Wiederherstellung der Ordnung
Tod an heiliger Stätte
P. D. James
Es geht doch nichts über einen handwerklich soliden Krimi. Das denke ich, als ich Tod an heiliger Stätte zuschlage. Zeitweilig versinken in eine Welt, in der Recht und Gerechtigkeitsempfinden genüge getan wird. Für mich ein probates Mittel gegen die Sinnlosigkeitsepidemie dieser Zeit.
Die Autorin P. D. James äusserte einmal die Ansicht, dass what the detective story is about is not murder but the restoration of order. Frei übersetzt: In einem Kriminalroman geht es nicht um Mord, sondern um die Wiederherstellung der Ordnung. Wie gesagt, ein temporärer Seelenbalsam.
Darüber hinaus bietet Tod an heiliger Stätte ein fein verwobenes Spektrum von Tatverdächtigen, Motiven, Spuren und Lebensgeschichten. Einen Ermittler mit Hang zur Poesie. Ein überschaubares Setting, eine stringente Handlung, einen logischen Plot. Und ist gespickt mit literarischen Einschüben und atmosphärisch verdichteten Lokalkolorit. Ohne Theatralik, mit wechselnder Erzählperspektive und Einfühlungsvermögen geschrieben. Was will das Krimi-Herz mehr begehren?
Im Mittelpunkt steht ein kleines, feines und etwas anachronistisch wirkendes Ausbildungsseminar in Theologie, abgelegen an der von Stürmen gepeitschten Küste Englands. Man liebt Klugheit und Einser-Kandidaten. Dort leben ziemlich durchgeistigte Patres und junge, männliche Studenten auf der Suche nach ihrem Bestimmung im Leben.
Umgeben von historisch äusserst wertvollen Kunstwerken und dem weiten Meer haben es sich die Patres und die zum Personal gehörenden Menschen gemütlich gemacht. Sie geniessen ihr abgeschiedenes Versorgt-Sein und frönen kleinen Leidenschaften. Eine Idylle – wäre da nur nicht der neue Kurator, der fest entschlossen ist, diesem elitären, satten Gehabe ein Ende zu setzen.
An einem Wochenende verweilen neben den üblichen Bewohnern verschiedene Besucher im Seminar, jeder mit eigenen Interessen, Verfehlungen und Seelenregungen beschäftigt. Und es geschieht ein Mord.
In klassischer Manier baut P. D. James so einen hermetischen Whodunit-Fall auf: Eine klare Anzahl von Verdächtigen tummelt sich an einem abgelegenen Ort. Die einzige Zufahrtsstrasse zum Seminar ist nicht passierbar, da der obligatorische Sturm, der natürlich in so einer Mordnacht toben muss, einen Baum umgerissen hat. Commander Dalgliesh von Scotland Yard nimmt zusammen mit seinem Team die Ermittlung auf.
Es macht mir Spass, mitzuraten, meine Schlüsse zu ziehen und eine Liste mit potenziellen Tätern anzulegen. Ich versuche, mich durch all die ausführlich gesponnenen Fährten nicht irritieren zu lassen, in dem Wissen, dass es Kriminalautoren oft lieben, die Tatperson im Hintergrund agieren zu lassen. Also lege ich mir eine „Welche-verdächtige-Person-bleibt-im-Hintergrund“- Liste an.
Die entscheidende Wende, die den Hinweis auf die Tatperson gibt, kommt dann tatsächlich überraschend und die Person steht zu meiner Enttäuschung nicht auf der Liste. Ich gestehe, die Kriminalistin in mir ist etwas gekränkt. Aber das wird durch die gute Konstruktion des Krimis, die überzeugenden Figuren und den unerwarteten Plot rasch wieder gut gemacht. Es bleibt spannend bis zur letzten Seite.
Tod an heiliger Stätte vereint für mich sachlichen Fokus, Intelligenz und sprachlichen Schliff. Er geht weit über die perfekte Rekonstruktion eines Tatherganges hinaus und greift inhaltlich ein interessantes Thema auf: Die Aussenwirkung einer aus der Zeit gefallenen religiösen Gemeinschaft im Widerspruch zu ihren inneren Wertvorstellungen. Zudem empfinde ich das Buch als eine Brücke zwischen den traditionellen British Crime Ladies (wie zum Beispiel Dorothy L. Sayers) und modernen Vertreterinnen des Genres.
Während des Lesens kommt die latent in mir schlummernde Grossbritannien-Irland-Sehnsucht wieder ans Tageslicht. Via GoogleMaps reise ich in die Gegend des Seminars. Träume von einem Cottage am Meer. Von kauzigen Pups, kleinen Steinmäuerchen, Tee & Scones und einem Bänkchen, auf dem ich sitze und ins Meer schaue.
Und so, wie dieser Krimi ein Ausflug ist in eine Welt, in der Ordnung wiederhergestellt wird, ist mein verklärter Traum von einem Cottage am Meer ebenfalls ein Ausflug, eine sogenannte Kleine Flucht. Eine Auszeit, eine willkommene Abwechslung vom Altbekannten. Ein Freiraum, den ich mir nehme.